Das Jahr Des Werwolfs
gequält.
»Nein«, sagt Neary finster. »Die Aussage des Jungen taugt überhaupt nichts.«
In seiner Empörung und Enttäuschung über das Protokoll, das im Hause von Marty Coslaws Onkel und Tante in Stowe aufgenommen wurde,
hat Polizist Neary diese Zeilen übersehen: »Vier von den Dingern explodierten neben seinem Gesicht — ich denke, man kann es ein Gesicht nennen — und zwar alle gleichzeitig, und ich glaube, er hat dabei ein Auge verloren. Das linke Auge.«
Wenn Constable Neary sich das hätte durch den Kopf gehen lassen — was er aber nicht tat —, hätte er noch verächtlicher gelacht, denn in jenem stillen heißen August 1984 trug nur eine Person in der Stadt eine Augenklappe, und es war völlig absurd, ausgerechnet diese Person für den Mörder zu halten. Eher hätte Neary seiner eigenen Mutter die Morde zugetraut.
»Nur eins wird diesen Fall lösen«, sagt Constable Neary und zeigt mit dem Finger auf die vier oder fünf Männer, die an der Wand sitzen und auf ihren Samstagmorgenhaarschnitt warten, »und das ist gute Polizeiarbeit. Und ich werde der Mann sein, der sie ausführt. Diese Idioten von der State Police werden sich noch wundern, wenn ich den Kerl erwischt habe.« Neary bekommt ein ganz verträumtes Gesicht. »Jeder kann es sein«, sagt er. »Ein Bankkassierer … ein Tankwart… jemand, mit dem ihr unten in der Bar ein Bier trinkt. Aber gute Polizeiarbeit wird den Fall klären. Denkt an meine Worte.«
Aber Nearys gute Polizeiarbeit findet an diesem Abend ihr Ende, als ein behaarter, im Licht des Mondes silbrig glänzender Arm in das offene Fenster seines Dodge greift, mit dem er im Westen von Tarker’s Mills an der Kreuzung zweier Feldwege parkt. Er hört ein schnaubendes Knurren und riecht einen wilden und erschreckenden Geruch, wie man ihn im Raubtierhaus eines Zoos riechen kann.
Sein Kopf wird herumgerissen, und er starrt in ein grünes Auge. Er sieht das Fell und die schwarze feuchtglänzende Schnauze. Und als das Biest die Schnauze öffnet, sieht er die Zähne. Fast spielerisch fährt ihm die Bestie mit der Klaue ins Gesicht und reißt ihm die rechte Wange weg. Überall spritzt Blut. Er spürt, wie es über den Rücken seines Hemdes läuft und warm einsickert. Er schreit; er schreit und spuckt Blut. Hinter den Schultern der Bestie schickt der Mond sein weißes Licht herab.
Er vergißt sein Gewehr hinten im Wagen und die Fünfundvierziger an seinem Gürtel. Er denkt nicht mehr an Psychologie und auch nicht mehr an gute Polizeiarbeit. Statt dessen konzentriert er sich auf etwas, das Kenny Franklin heute morgen im Frisörladen sagte. Vielleicht ist es eine Art Verkleidung, die der Kerl trägt. So etwas wie eine Maske.
Deshalb greift Neary dem Wolf ins Gesicht, als dieser ihn an der Kehle packt. Er reißt an dem groben drahtigen Fell und hofft wie von Sinnen, daß er die Maske lösen und abziehen kann — daß er Stoff reißen hören und den Mörder sehen wird.
Aber nichts dergleichen geschieht — nichts, außer daß die Bestie vor Wut und Schmerz aufbrüllt. Sie schlägt mit ihrer Klauenhand zu — ja, er sieht, daß es eine Hand ist, wenn auch auf scheußliche Weise mißgestaltet, eine Hand, der Junge hatte recht. Blut spritzt gegen die Windschutzscheibe des Wagens und auf das Amaturenbrett und tropft in die Flasche Buschbier, die zwischen Nearys Beinen steht.
Mit der anderen Hand greift der Werwolf in Nearys frischgeschnittenes Haar und zerrt ihn halb aus dem Wagen. Er heult triumphierend auf und wühlt die Schnauze in Nearys Hals. Er frißt, während das Bier aus der heruntergefallenen Flasche läuft und der Schaum sich zwischen Brems-und Kupplungspedal auf dem Wagenboden verteilt.
So weit die Psychologie. So weit die Polizeiarbeit.
Der Monat neigt sich dem Ende zu, und wieder nähert sich die Vollmondnacht. Die verängstigten Leute von Tarker’s Mills warten darauf, daß das Wetter sich abkühlt, aber es bleibt schwül und drückend. Woanders in der Welt wird ein Baseballspiel nach dem anderen entschieden, und die Football-Saison hat begonnen. Der gute alte Willard Scott informiert die Leute von Tarker’s Mills, daß am einundzwanzigsten September in den kanadischen Rockies dreißig Zentimeter Schnee gefallen seien. Aber in diesem Teil der Welt hält sich der Sommer. Am Tage liegen die Temperaturen um dreißig Grad; die Kinder gehen seit drei Wochen wieder zur Schule und sitzen unglücklich und schweißgebadet in den summenden Klassenzimmern, in denen die Uhren so
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