Das Jahr Des Werwolfs
liegt Marty also im Bett und hört den Oktoberwind draußen singen, die letzten Blätter des Jahres aufwirbeln und leise durch die Augenlöcher der ausgehöhlten Kürbisse pfeifen, die die Einfahrt der Coslaws flankieren. Er sieht den Halbmond über den sternenfunkelnden Himmel ziehen. Die Frage ist die: Was soll er jetzt tun?
Er weiß es nicht, aber er ist sicher, daß die Antwort darauf noch kommen wird.
Er schläft den tiefen traumlosen Schlaf gesunder Jungen, während draußen der Wind über Tarker’s Mills hinwegfegt, den Oktober vertreibt und den kalten sternenglänzenden November bringt, den eisernen Monat des Herbstes.
Der dunkle November hat Tarker’s Mills erreicht. Auf der Hauptstraße scheint ein seltsamer Exodus stattzufinden. Der Reverend Löwe beobachtet ihn von der Tür seiner Baptistenpfarrei aus; er ist gerade herausgekommen, um seine Post zu holen, und hält sechs Rundschreiben und einen einzelnen Brief in der Hand. Er schaut den staubigen Kleinlastern nach, die jetzt zur Stadt hinausfahren — Fords, Chevys und International Harvesters.
Die Meteorologen sagen, daß es bald Schnee geben wird, aber diese Leute sind nicht auf der Flucht vor der Witterung und nicht auf dem Weg in wärmere Gefilde. Man fährt nicht im Jagdanzug mit Gewehr und Hunden im Wagen an die goldenen Strande Floridas oder Kaliforniens. Dies ist
155 schon der vierte Tag, daß die Männer, angeführt von Eimer Zinneman und seinem Bruder Pete mit ihren Gewehren und Hunden und vielen Sechserpacks Bier hinausfahren. Diese Ausflüge werden veranstaltet, weil bald Vollmond ist. Die Jagd auf Vögel und Rotwild ist vorbei, aber für Werwölfe gibt es keine Schonzeit. Hinter der Maske ihrer grimmig entschlossenen Gesichter amüsieren sich die meisten Männer köstlich.
Reverend Löwe weiß, daß einige dieser Männer nur herumalbern; hier haben sie die Gelegenheit, in die Wälder zu fahren, Bier zu saufen, in Schluchten zu pissen, sich Witze über Polacken, Franzosen und Nigger zu erzählen und auf Eichhörnchen und Krähen zu schießen. Sie sind die eigentlichen Tiere, denkt Löwe, und fährt unbewußt mit der Hand über die Augenklappe, die er seit Juli trägt. Wahrscheinlich wird irgend jemand noch einen anderen erschießen. Sie können von Glück sagen, daß es nicht schon passiert ist.
Hupend und unter Hundegebell verschwinden die letzten Wagen hinter Tarker’s Hill. Ja, einige der Männer albern nur herum, aber andere — zum Beispiel Eimer und Pete Zinneman — meinen es todernst.
Wenn diese Kreatur, Mensch oder Bestie oder was auch immer, in diesem Monat wieder unterwegs ist, werden die Hunde die Fährte aufnehmen,
hatte der Reverend Eimer vor kaum zwei Wochen beim Frisör sagen hören. Und wenn sie — oder er — wegbleibt, dann haben wir vielleicht ein Leben gerettet. Mindestens aber irgend jemandes Vieh.
Ja, einige der Männer — vielleicht ein Dutzend, vielleicht zwei Dutzend — meinen es ernst. Aber sie sind es nicht, denen Löwe dieses seltsame Gefühl zu verdanken hat — dieses Gefühl, in die Enge getrieben zu werden.
Es sind die Notizen, die das bewirkt haben. Die Notizen, deren längste nur aus zwei Sätzen besteht, und die mit einer kindlichen Handschrift geschrieben sind und gelegentlich Rechtschreibfehler aufweisen. Er betrachtet den Brief, der mit der heutigen Post gekommen ist und in der gleichen kindlichen Handschrift adressiert wurde: Reverend Löwe, Pfarrei der Baptistenkirche, Tarker’s Mills, Mains 04491. Nun, dieses seltsame Gefühl, in der Falle zu stecken … er stellt sich vor, daß sich ein Fuchs so fühlen muß, der merkt, daß die Hunde ihn irgendwie in eine Sackgasse gejagt haben. Dieser Augen
blick der Panik, wenn der Fuchs sich mit gefletschten Zähnen den Hunden zum Kampf stellt, die ihn mit Sicherheit zerreißen werden.
Er schließt die Tür hinter sich und geht in den Salon, wo die alte Standuhr feierlich tickt und tackt. Er setzt sich und legt die religiösen Rundschreiben säuberlich auf den Tisch, den Mrs. Miller zweimal in der Woche poliert, und öffnet seinen neuen Brief. Wie bei den anderen Notizen, fehlen Anrede und Unterschrift. In der Mitte eines vom Notizblock eines Schülers gerissenen Zettels steht dieser Satz:
Warum nehmen Sie sich nicht das Leben?
Reverend Löwe faßt sich mit der Hand an die Stirn — sie zittert leicht. Mit der anderen Hand zerknüllt er den Zettel und legt ihn in den großen gläsernen Aschenbecher, der mitten auf dem Tisch steht. Reverend
Weitere Kostenlose Bücher