Das Jahr Des Werwolfs
irgendeinen Jungen küssen, nicht weil sie das will, sondern weil sie dann am nächsten Morgen in der Schule mit ihren Freundinnen darüber kichern kann.
Martys Dad nimmt Marty in seinem Lieferwagen mit, denn der Lieferwagen hat eine eingebaute Rampe, mit deren Hilfe Marty ein-und ausgeladen werden kann. Many rollt die Rampe hinunter und fährt dann selbst mit seinem Rollstuhl von Haus zu Haus. Er hat eine Tasche mit, und sie gehen zu allen Häusern in ihrer Straße und auch noch zu ein paar Häusern weiter unten in der Stadt; zu den Collinses, den Maclnnes, den Manchesters, den
Millikens, den Eastons. In der Kneipe steht ein ganzes Goldfischglas voll Süßigkeiten. In der Pfarrei der Unabhängigen Gemeinde gibt es Schokoladenriegel und in der Pfarrei der Baptistenkirche wieder andere Süßigkeiten. Dann weiter zu den Randolphs, den Quinns, den Dixons und zu noch einem oder zwei Dutzend Leuten. Marty kommt mit einer prall gefüllten Tasche nach Hause … und er weiß etwas Erschreckendes, etwas fast Unglaubliches.
Er weiß es.
Er weiß, wer der Werwolf ist.
An einem Punkt seiner Tour hat die Bestie, die jetzt zwischen den Monden ihres Wahnsinns nicht zu fürchten ist, ihm eigenhändig Süßigkeiten in seine Tasche geworfen und dabei nicht gemerkt, wie Martys Gesicht unter seiner Yoda-Maske totenblaß wurde oder daß seine behandschuhten Hände den Yoda-Stab so fest packten, daß die Fingernägel weiß wurden. Der Werwolf lächelt Marty an und streicht ihm über seinen Gummikqpf.
Aber er ist der Werwolf. Das weiß Marty, und nicht nur weil der Mann eine Augenklappe trägt. Da ist noch etwas anderes — in dem Menschenge
sieht dieses Mannes erkennt Marty eine seltsame Ähnlichkeit mit dem knurrenden Gesicht des Tieres, das er in jener silbrigen Sommernacht vor fast vier Monaten sah.
Seit er aus Vermont nach Tarker’s Mills zurückgekommen war, hatte Marty Ausschau gehalten. Er war überzeugt gewesen, daß er den Werwolf früher oder später sehen und auch erkennen würde, denn der Werwolf mußte ein einäugiger Mann sein. Die Polizei hatte genickt und eine Überprüfung versprochen, als er den Beamten erzählte, daß der Werwolf nach Martys Ansicht ein Auge verloren haben müsse. Aber Marty weiß, daß sie ihm nicht geglaubt haben. Vielleicht weil er ein Kind ist, oder vielleicht weil sie in der Julinacht, als die Begegnung stattfand, nicht dabei waren. Aber das war gleichgültig. Er wußte, daß es so war.
Tarker’s Mills ist eine kleine Stadt, aber ziemlich ausgedehnt, und bis heute abend hat Marty keinen einäugigen Mann gesehen, und er hat nicht gewagt, Fragen zu stellen; seine Mutter fürchtet ohnehin schon, daß die Episode vom Juli ihm seelischen Schaden zugefügt haben könnte. Er fürchtet, daß sie es erfahren könnte, wenn er der Sache zu auffällig nachspürte. Außerdem ist Tarker’s Mills tatsächlich nicht besonders groß. Früher oder später würde er die Bestie in ihrer menschlichen Gestalt treffen.
Auf dem Nachhauseweg denkt Mr. Coslaw (Trainer Coslaw für Tausende von Studenten in Vergangenheit und Gegenwart), daß Marty so still ist, weil die Aufregung des Abends ihn ermüdet hat. In Wirklichkeit ist das nicht der Fall. Marty hat sich niemals — ausgenommen in der Nacht des wunderbaren Feuerwerks — so wach und lebendig gefühlt. Und sein wesentlicher Gedanke ist dieser: ich habe nur deshalb fast sechzig Tage dazu gebraucht, die Identität des Werwolfs zu ermitteln, weil ich, Marty, katholisch bin und die St.-Marien-Kirche am Stadrand besuche.
Der Mann mit der Augenklappe, der Mann, der Süßigkeiten in seine Tasche geworfen, gelächelt und ihm über den Gummikopf gestrichen hat, ist kein Katholik. Weit gefehlt. Die Bestie ist der Reverend Lester Löwe von der Gnadenkirche der Baptisten.
Als er lächelnd aus der Tür schaut, sieht Marty im gelben Licht der Lampe deutlich die Augenklappe. Sie gibt dem Mausgesicht des kleinen Geistlichen ein fast piratenhaftes Aussehen.
»Das mit ihrem Auge tut mir leid, Reverend Löwe«, sagte Mr. Coslaw mit seiner dröhnenden Stimme. »Hoffentlich ist es nichts Ernstes.«
Reverend Lowes Lächeln wurde immer gequälter. Er habe tatsächlich das Auge verloren. Ein gutartiger Tumor; man habe das Auge entfernen müssen, um an den Tumor zu gelangen. Aber es sei der Wille des Herrn, und er habe sich damit abgefunden. Noch einmal hatte er Marty über seine Gummimaske gestrichen und gesagt, er kenne Leute, die ein schwereres Kreuz zu tragen haben.
Jetzt
Weitere Kostenlose Bücher