Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
aufgewachsen waren.
Was ich über William Godin erfahren hatte, versteinerte sein Bild noch mehr. Die Plastik eines bösen Alten, mehr ein Relief, das keinen Platz für schwankende menschliche Formen und für zuckende Innereien bot. Das Zerrbild eines Menschen, in dem kein Herz schlug, nur zwanghaft ein Gehirn arbeitete.
Möglich, dass er mich nicht erkennen würde. Er war alt genug, um zahnlos, sabbernd und zusammengesunken in einem Rollstuhl zu sitzen, dement, inkontinent und halb erblindet. Gut so. Und sollte er noch bei Verstand sein, würde ich ihn fertigmachen, wenigstens mit Worten. Nein, das war zu wenig. Ich wollte Blut sehen.
Vor allem durfte er nicht recht behalten mit seiner Erziehung durch Widerspruch. Wenn er irgendwelche Hoffnung in mich gesetzt hatte, so durfte ich sie nicht erfüllen. Aber ich wusste nicht, welche Erwartungen er hatte. Was sollte aus mir geworden sein? War ich der, den er sich vorstellte? Bewies es nicht schon seinen Erfolg, dass ich zu ihm ging? Wenn alles seinem Plan entsprach, dann durfte ich nicht tun, was ich vorhatte. Ich musste den Ort jetzt sofort wieder verlassen. Denn es bestand tatsächlich die Möglichkeit, dass ich mich präzise so verhielt, wie er es wollte. Es konnte sogar sein, dass er krank war und hoffte, ich würde ihn umbringen, von einem langen Sterben erlösen. War es möglich, den eigenen Sohn Jahrzehnte im Voraus zum Todesengel zu machen? Allerdings müsste er dann auch damit rechnen, dass meine Rache gerade darin bestand, ihn am Leben zu lassen. Und wenn er genau das geplant hatte, musste ich ihn doch umbringen. Diese Art, zu denken, überforderte mich im Augenblick.
Ich erreichte das Ortsschild. Daneben eine alte Villa mit großem Garten. Der Tierarzt. Links führte eine Straße die Felder hinauf. Oben stand die alte Schule. Wenn er am Fenster saß, konnte er mich kommen sehen. Ich ging langsam, das Tempo eines Spaziergängers, wie einer, der hier jeden Tag langgeht.
An den dicken Baumstümpfen erkannte ich, dass rund um die Schule einmal große Bäume gestanden hatten. Das Gebüsch war niedrig gehalten worden. Er hatte sich ein freies Schussfeld geschaffen. Und ich besaß immer noch keine richtige Waffe. Und keine Möglichkeit, mich anzuschleichen. Ob er mich sofort erkannte? Am unverfänglichsten wäre es, vorbeizugehen, dann umzukehren und von hinten anzugreifen.
War das Angst? Wenn ja, wovor?
Nein, ich wollte ihm ins Gesicht sehen. Ihn ansehen und nichts sagen, kein Wort. Er sollte reden, das Gefühl bekommen, sich erklären zu müssen. Ich würde mich nicht provozieren lassen, nicht widersprechen. Kein Wort, kein Laut. Nichts. Das war die richtige Strategie. Damit ich es in keinem Moment vergessen würde, hob ich einen kleinen scharfkantigen Stein vom Straßenrand auf. Ihn konnte ich in meiner Faust pressen bis zum Schmerz, als Mahnung, zu schweigen. Dreißig Minuten sollte er bekommen, dann würde ich aufstehen und wortlos gehen. Das schien mir das Beste. Es war etwas, das er nicht erwarten würde.
Aus der Ferne hatte das Gebäude kleiner gewirkt. Die Fenster deuteten auf mindestens zwei Klassenzimmer hin. Das Dachgeschoss besaß weitere Zimmer, sicher die ehemalige Lehrerwohnung. Ein Lattenzaun zwischen gemauerten Backsteinsäulen begrenzte das Grundstück.
Eine dicke hölzerne Eingangstür. Sie war angelehnt. Die braune Farbe auf dem Holz welkte, fiel in kleinen Blättern herab. Eine Messingtafel mit dem Firmennamen. Der Klingelknopf machte den Eindruck, als würde er nicht mehr funktionieren. Ich ging hinein. Ein Flur mit braunem Linoleum, grün gestrichenen, zerkratzten Wänden, verschlossenen Türen.
Kein Hallo, kein Ton. Ich wollte einfach nur dastehen vor ihm und nichts tun. Ich öffnete die erste Tür. Der große ehemalige Klassenraum war mit drei Tischen ausgestattet, Holzplatten auf einfachen Böcken. Computer und andere technische Geräte, Lautsprecher. Kabelgewirr von Tisch zu Tisch. Die grüne Schultafel hing noch an der Wand, mehrere Karten mit Reißzwecken und Klebefilm daran befestigt. Der Raum war schmutzig, zerknüllte Papiere auf dem Boden, Kreidereste unter der Tafel, die Fensterscheiben voller Schlieren, Spinnweben. Ich öffnete die nächste Tür im Flur. Ein Toilettenraum mit dicken gelben Kalkablagerungen auf Becken und Armaturen. Auf der anderen Seite des Flurs führte eine Treppe nach oben. Die Tür daneben öffnete sich zu einem weiteren Klassenraum mit Rollschränken, zwei alten Schreibtischen, fast sahen sie aus,
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