Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Brust verlaufenden Ledergürtel bekleidet. Epauletten mit Eichenlaub, schwarze hohe Stiefel und eine lederne Tasche am Gürtel, vielleicht mit einer Waffe darin.
»Wir werden das Kind schon finden«, sagte sie mit tiefer Stimme.
»Sie ist schon Mitte dreißig«, wagte ich zu sagen. Die Bemerkung, dass man nicht in Russland nach ihr suchen müsse, verkniff ich mir.
Sie hackte mit von weit oben herabstürzenden Zeigefingern alle meine Angaben in den Computer und nahm meine Skizze in Empfang. Ich lehnte mich zurück und versuchte aufzuwachen. Erst Scotty, dann das Mädchen aus dem Antiquitätenladen und jetzt diese Detektivin in Hitleruniform waren der Beweis, dass alles ein Traum war.
Ich schüttelte heftig den Kopf, um mein Gehirn an die Wände meines Schädels stoßen zu lassen. Dann blickte ich auf und erwartete, eine gepolsterte Zelle, ein vergittertes Fenster zu sehen.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte die Frau vom russischen Geheimdienst. Meine Zelle hatte kein Fenster. Ich nahm einen Keks, zerdrückte ihn in der Faust und öffnete die Hand. Ein W aus Kekskrümeln.
Vielleicht war das alles, was ich erlebt hatte, vollkommen normal, es passierte täglich tausendfach. Nur wusste ich nichts davon, weil ich zum Alltag der meisten Menschen keinen Kontakt hatte.
»Danke«, sagte ich. »Ich hätte noch eine dritte Aufgabe: Finden Sie meinen Großvater, damit ich ihn umbringen kann.«
21
Die Scheinwerfer strahlten ihr Licht über den dunklen Asphalt. Großvater fuhr mich zurück nach Hause. Schweigend. Anfangs roch er nach Holzkohle. In regelmäßigen Abständen griff er in seine Hosentasche, holte ein Eukalyptusbonbon heraus. Er legte die Ellbogen auf das Steuer, hatte dadurch beide Hände frei, um das Bonbon aus dem klebrigen Papier zu wickeln. Die Kabine des Geländewagens füllte sich mit Eukalyptusduft. Großvater begann zu brummen. Ein Lied oder nach innen gehende Selbstgespräche, Flüche.
Solange wir die Landstraßen entlangfuhren, hätte ich an Kreuzungen und Einmündungen, wenn Großvater langsam fuhr, fliehen können. Aber die Dörfer erschienen mir unbewohnt. Nie war ein Mensch zu sehen, die Gardinen in den Fenstern hingen reglos und vergilbt herab. Dahinter flackernde Totenlichter. Es schien kein Leben mehr zu geben, und wenn doch, so mussten es Menschen sein, die meinem Großvater ähnelten, einen sechs- oder siebenjährigen Jungen nur auf andere Weise quälen würden. Dann kam die Autobahn. Hier war ich Gefangener des Autos, kein Aussteigen möglich.
Ich wünschte mir, die Welt wäre nur das, was ich sehen konnte und was beleuchtet war, alles andere würde nicht existieren. Später, wenn ich groß sein würde, wollte ich auf diese Art leben. An allem nur vorbeifahren, nie anhalten, nie zu weit vorausschauen. Nie mehr wissen wollen als das, was mir die Oberfläche bot. Die Welt erschien mir wie ein See, unter dessen Oberfläche Ungeheuer oder mindestens der Tod durch Ertrinken lauerten.
Wir erreichten die Umgebung Frankfurts. Nach Mitternacht kamen wir an. Wir wohnten damals noch am Rand des Zentrums in einem Mietshaus. Meine Eltern wurden aus den Betten geklingelt. Sie schnaubten.
»Er kann lesen und schreiben.« Der Spucketropfen auf der Unterlippe meines Großvaters wie ein drittes Auge.
»Aber woher kann er das?« Meine Mutter in einem dünnen, geblümten Nachthemd. Ihre Brüste aufgeblasen.
»Das ist unmöglich.« Mein Vater in einem zerfetzten grauen Bademantel. Er zog sich eine lange Hose an, nahm zwei Beutel mit leeren Flaschen und ging so, wie er war, hinaus, als würde er nie zurückkommen wollen. Ein Penner, obdachlos.
»Wir haben alles getan, damit er nicht ...« Meine Mutter wischte mit dem Ärmel ihres Nachthemds über den Küchentisch.
Ich im Griff meines Großvaters. In der Küche ließ er mich fallen. Ein Sack mit Kartoffeln. Die meisten verfault.
»Er hat die Hütte angezündet«, sagte er. Er sah auf mich herab, die Oberlippe unter der Nase zusammengezogen. Ich wagte nicht zu widersprechen. Die Hütte war nicht abgebrannt. Das Holz, aus dem sie gebaut war, brannte nicht. Die Flammen hatten die Bilder auf dem Tisch vernichtet, noch ein bisschen versucht, am Tisch herunterzutropfen, um den Fußboden in Brand zu setzen. Vergeblich. Nicht einmal das alte Sofa hatten sie erreicht. Ich glaube, auch mein Großvater war darüber enttäuscht.
Meine Mutter kniff die Augen zusammen und beugte sich zu mir herab. Ich wollte sagen, wie es wirklich gewesen war, aber mein Großvater kam
Weitere Kostenlose Bücher