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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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hielt ihr die Tür des Lastwagens auf. Sie kletterte hinein, kurbelte die Scheibe herunter.
    »Pass auf dich auf«, sagte sie. Der Motor des Lastwagens sprang an und schüttelte ihren Körper. »Warte.«
    Ihr Kopf verschwand, gleich darauf erschien sie wieder und reichte mir zwei Blätter Papier mit schmutzigen Fingerabdrücken darauf. »Hier, du interessierst dich doch für Schriften. Das sind die Fotos von den beiden Tafeln aus dem Grab. Einmal mit Licht von rechts und einmal von links. Falls du es entziffern kannst, sag mir Bescheid. Aber erzähl keinem, dass du diese Bilder hast. Du bist jetzt mein Komplize.«
    »War ich jemals etwas anderes?«
    »Die Frage ist, ob du überhaupt etwas anderes sein kannst.«
    Ich sah ihr nach, bis der Lastwagen im Stadtverkehr verschwand, dann warf ich einen Blick auf die Papiere. Es waren Fotokopien von Fotos. Im ersten Moment erinnerten mich die Zeichen an arabische Schrift. Vier Zeilen auf einer Tafel. Aber es waren plastische Gebilde. Es hätten Buchstaben sein können, eventuell auch Symbole für ganze Wörter.

7
    »Du kannst also jetzt richtig schreiben?«, fragte mein Großvater.
    »Ja, ich kann lesen und schreiben.«
    »Im Grunde kann ich dich nicht mehr gebrauchen.«
    Ich wusste das und hatte erwartet, in diesem Jahr nicht zu ihm zu müssen. Doch dann war das Unglück mit meinem Bruder geschehen. Statt Martin musste ich nun wieder in den Harz. Und Großvater hatte mich sogar abgeholt. Meine Eltern wollten Frankfurt nicht verlassen, solange Martin noch im Krankenhaus lag.
    »Kann es sein, dass du weißt, wer schuld daran ist, dass mir Martin in diesem Sommer nicht zur Verfügung steht?«
    »Ich habe nichts getan.«
    »Wer war es dann?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Glaubst du, ich war es?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Dann ist ja gut«, sagte er.
    Als er an einer Tankstelle hielt, holte er einen Strick und band mich am Lenkrad fest, bevor er den Wagen verließ. Ich probierte, in der kurzen Zeit, in der er tankte und bezahlte, den Knoten zu lösen, aber es gelang mir nicht.
    Er kam zurück und nahm mir das Band wieder ab. Auf der weiteren Fahrt stellte er mir Fragen zu meiner Mutter und meinem Vater. Er wollte wissen, ob mein Vater viel arbeitete, ob er oft über Nacht wegblieb. Er fragte, was meine Mutter über ihn erzählte. Er fragte nach meiner Krankheit, ob ich wüsste, warum ich lange Zeit so schwach gewesen sei? Ob ich wüsste, dass ich hätte sterben können? Ob ich wüsste, wer daran schuld sei? Aber ich antwortete ihm nicht. Er nahm es hin.
    Als wir bei seiner Hütte ankamen, zeigte er mir ein Gerüst. Es war ein ähnliches, wie man es für Schaukeln errichtete. Darunter befand sich Sand. Aber es waren keine Schaukel da und keine Ösen, um sie zu befestigen.
    »Dies habe ich gebaut«, sagte er, »weil du schreiben kannst.«
    Am nächsten Morgen band er mich mit den Füßen an den Querbalken, mit dem Kopf nach unten. Er glättete den Sand unter mir, den ich nicht erreichen konnte, dann gab er mir einen Stock in die Hand.
    »Du kannst doch schreiben, sagst du, dann schreib! Nimm den Stock, und schreib damit Worte in den Sand.«
    Der Strick, mit dem er meine Füße befestigt hatte, schnitt mir ins Fleisch. Ich hatte vor dem Spiegel trainiert, Schmerzen auszuhalten. Ich wollte lernen, mein Gesicht nicht zu verziehen. Demnächst würde ich trainieren, kopfüber zu hängen. Mein Kopf schwoll an. Ich biss die Zähne zusammen, ich wollte nichts sagen und alles ertragen. Ich hatte immer gewusst, dass noch eine größere Strafe für Martins Bein folgen musste. Die Tränen liefen mir über die Stirn in die Haare und tropften von dort herab, hinterließen kleine Krater im Sand.
    »Schreib!«, flüsterte er. »Schreib das Wort ›schön‹.«
    Ich wollte es, aber weil ich keinen festen Halt hatte, schwang ich hin und her und es gelang mir nicht. Doch mein Großvater war zufrieden damit. Er fotografierte die Zeichen im Sand.
    »Und jetzt schreib ›um Hilfe‹«, sagte er.
    Aber ich konnte nicht mehr. Er sah mich an, und seine Augen waren so klein, verschwanden in seinen Hautfalten, und seine Ohren wuchsen aus seinem Kopf. Er kam ganz nah an mein Gesicht. Er war nur noch Mund mit braunen Zähnen. Mit grünen Splittern von zermahlenen Eukalyptusbonbons. Er schrie, ich solle schreiben.
    »Schreib das Wort ›Schmerz‹!«
    Ich konnte nicht, der Stock fiel mir aus der Hand, meine Arme und Finger waren pralle Würste. Sie würden platzen. Zwischen dem Rotz und dem Schleim, der mir

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