Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
aus Nase und Mund lief, Blasen schlug, wimmerte ich: »Ich bin schuld, ich bin schuld.«
8
»Immer wenn ich versuche, ein bisschen mehr wie eine Frau auszusehen, kommt ein Transvestit heraus.« Eva drehte sich vor mir in der Türöffnung ihrer Wohnung. Sie trug eine blonde Perücke.
»Danke, dass Sie gekommen sind.« Sie ging voraus. Ihre Hautfarbe wirkte im Verhältnis zu dem leuchtenden Haar grau. Sie sah krank aus.
Sie hatte mich angerufen, mir ihre Adresse genannt. Ich solle zu ihr kommen, hatte sie gesagt, da fühle sie sich sicherer als in der Öffentlichkeit. Drei Tage zuvor hatte unser erster Kinoabend sein Ende in einer Bar gefunden. Jeder war allein nach Hause gegangen.
Sie wohnte nicht weit von ihrem Antiquitätengeschäft in einem kastenförmigen Wohnhaus. Die Wohnung irritierte mich. Alle Möbel waren schief. Regale, Schränke, sogar ein Sofa und ein Sessel, aus Holzplatten schräg zusammengefügt. Es fehlte jeder rechte Winkel. Auch die Polster waren schief genäht. Manches wirkte wie die Karikatur eines Möbelstücks. Entweder hatte es jemand mit einem Augenfehler gezimmert, oder die Wohnung war ein Kunstwerk.
»Was ist das?« Ich klopfte auf eine Tischplatte, die sich zum Fußboden neigte, mehr eine Rutschbahn für Tassen und Teller.
Eva lachte. »Jemand wollte das so, hat es bauen lassen. Der Vermieter hat gesagt, ich darf nichts verändern.«
»Wie kann man hier leben?«
»Ich denke, der Erbauer wollte das Gefühl vermitteln, dass nichts wirklich sicher ist auf der Welt.«
»Er hat recht. Aber für diese Erkenntnis bedarf es einer solchen Übung nicht.«
»Wer weiß. Sehen Sie mich an. Diese blonde Perücke verändert mich, und vielleicht ist das, was sie von mir zeigt, die Wahrheit. Die eine Hälfte der Wahrheit.«
Sie trug ihre übliche straffe Hose und das T-Shirt mit zwei roten Streifen.
»Wie wäre es mit anderer Kleidung? Mit einem Kleid, einem Kostüm, einem Rock zum Beispiel?«
»Ungern. Ich habe eins in Weiß, aber es kostet mich Mühe, es zu tragen.«
»Was ist das, was Sie immer anziehen?«
»Ich kaufe es in einem Spezialgeschäft. Es ist Sportkleidung für Barren- und Reckturner. Kindergröße natürlich.«
Ich war neugierig auf die anderen Zimmer. Eva folgte mir lächelnd. Ich war wohl nicht der Erste, der mit offenem Mund ihre Wohnung durchforschte. Die Küche war tatsächlich auf die gleiche schräge Weise ausgestattet. Und da, wo es nicht ging, bei Kühlschrank und Herd, standen diese auf schrägen Podesten. Selbst im Badezimmer waren Waschbecken, Klo und Dusche schief montiert.
»Ich hab mich auch gefragt«, sagte Eva, »wie man einen Klempner dazu bekommt, seine Arbeit auf solche Weise auszuführen.«
»Aber das Bett wird doch wohl waagerecht sein.«
Eva lächelte, öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Das Bett war sehr breit und in jeder Hinsicht schräg. Es knickte in der Mitte ein und senkte sich zur rechten Fußseite; daneben standen zwei Nachtschränke, sie wirkten, als hätte ein kubistischer Maler sie zerlegt und neu zusammengesetzt. Selbst das Fenster war durch einen innen aufgesetzten Rahmen aus jedem rechten Winkel gebracht worden.
»Man schläft ganz gut«, sagte Eva. »Die ersten Tage brauchte ich morgens eine Weile, bis ich begriff, dass meine Augen in Ordnung waren. Jetzt geht es mir manchmal so, dass ich das Haus verlasse und mir draußen alles schief oder langweilig vorkommt.«
»Es bildet den Seelenzustand des Bewohners ab.«
»Kaum. Ich glaube, es war eine Übung für ihn. Der rechte Winkel ist ein Gefängnis des zivilisierten Menschen. Er hat uns den Blick verbaut. Darum ging es ihm.«
»Der rechte Winkel ist Basis unserer Kultur.«
»Unsere Kultur ist ein Gefängnis.«
Wir gingen zurück ins Wohnzimmer. Und erst jetzt bemerkte ich, dass auch die Zimmerwände allesamt schräg waren. So viele Veränderungen durfte man als Mieter kaum vornehmen. Wahrscheinlich hatte der Hausbesitzer hier gewohnt, und alle Wohnungen waren so ausgestattet.
Eva zupfte an ihren Haaren. »Was ist? Gehen wir ins Kino?«
»Außer der Reihe?«
»Ja. Sagen Sie nicht, Sie hätten keine Zeit oder wären anders verabredet. Ich glaube Ihnen kein Wort.«
»Seit wann wohnen Sie hier?«
»Seit acht Wochen. Ihr Bruder hat mir die Wohnung vermittelt.«
Sie zog die Perücke von ihrem Kopf. »Ins Kino, bitte. Wo es dunkel ist.«
Sie öffnete ihr festgeknotetes Haar, schüttelte sich wie ein Hund, um es zu lockern.
»Dunkelheit? Wofür?«
»Ich will etwas
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