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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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gestehen.«
    Ich zog sie heran und umarmte sie. Sie hatte nicht die Spur von Brüsten.
    »Vielleicht«, sagte ich, »läuft irgendwo der Film Die Welt der Suzie Wong mit William Holden.«
    Sie wand sich lächelnd unter meinen Armen heraus und sagte etwas in einer fremden Sprache. Sie ging zum Fenster, kam zurück, küsste mich auf die Wange. Sie hörte nicht auf, in ihrer Sprache zu reden. Sie sah zu Boden, erzählte mir stockend eine lange Geschichte, umrundete mich dabei. Ich verstand kein Wort.

9
    »Wie?«
    »Ich möchte die Milch«, wiederholte ich. »Bitte.«
    Mein Vater kniff die Augen zusammen. Wir saßen uns am Frühstückstisch gegenüber. Mein Bruder und meine Mutter waren schon aus dem Haus gegangen.
    »Ich verstehe dich nicht.« Die Milch stand vor ihm. »Was ist ›Slab‹?«
    »›Slab‹?«
    ›»Slab‹. Was ist das für eine Sprache? Habt ihr in der Schule jetzt Chinesisch?«
    »Ich sagte ›Milch‹!« Ich stand auf, ging um den Tisch herum und holte mir die Milch. Ich hielt ihm die Packung hin und sang ihm das Wort vor.
    »Ich verstehe das nicht, was du da redest. Ist das ein Spiel, eine erfundene Sprache?«, sagte mein Vater. »Bist du nicht zu alt für so etwas? Martin hat das mit vier Jahren gemacht. Du bist vierzehn, oder?«
    »Ich spreche doch ganz normal.«
    »Was redest du da? Was bedeutet ›glo‹?«
    Ich sprach etwas lauter. »Ich rede normal.«
    »Hör auf mit dem Unsinn. Ich verstehe kein Wort und will es auch gar nicht.« Er nahm sich die Zeitung, faltete sie auseinander und versteckte sich dahinter. Ich aß schweigend meine Cornflakes.
    Nach einer Weile tauchte er wieder auf: »Was ist mit deiner Schule? Warum beginnt sie heute später?«
    »Ein Lehrer ist krank.«
    Er stand auf, kam zu mir, und bevor ich mich abwenden konnte, hatte ich seine Hand im Gesicht. »Vielleicht hilft dir das!«, sagte er. »Sprich jetzt vernünftig!«
    Ich biss mir auf die Lippen. Er ging zurück, setzte sich wieder. »Also!«
    Ich sagte nichts.
    Er faltete die Zeitung, rollte sie zusammen, schlug mich damit.
    »Du wirst jetzt reden! Was ist mit der Schule?«
    »Der Lehrer ist krank.« Mit dem ersten Wort liefen mir die Augen über. Nicht weil er mich schlug, es war mehr, weil er sich zum ersten Mal für mich interessierte und mich zugleich nicht verstand.
    Mein Vater erhob sich, schlug weiter mit der Zeitung auf mich ein. »Du willst dich wohl über mich lustig machen. Was ist das für eine Sprache?«
    Ich wich ihm aus, sprang auf und ging rückwärts bis zur Tür. »Ich kann nicht anders sprechen.«
    Er brüllte: »Was verdammt ist: ›Gla tak now di bieg‹?« Aber gleich darauf setzte er sich wieder. »Ist gut«, sagte er. »Vielleicht kannst du ja wirklich nicht anders. Dann nicke für Ja und schüttle den Kopf für Nein. Verstehst du mich?«
    Ich nickte von der Tür aus.
    »Kannst du anders sprechen?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Glaubst du, dass du so wie ich sprichst?«
    Ich nickte.
    »Aber ich verstehe dich nicht, für mich sprichst du eine fremde Sprache. Möglicherweise ist es der Ausfall von Gehirnzellen. Eine Art Schlaganfall. Eine Krankheit. Zungenlähmung oder so etwas.«
    Ich hob die Schultern.
    »Sag noch mal ›Milch‹.«
    »Milch.«
    »Aha, ›Milch‹ heißt also ›Slab‹. Dasselbe wie vorhin. Es hat also System. Es kann also nicht ein Defekt im Gehirn sein.«
    Er faltete die Zeitung wieder auseinander. »Komm, setz dich wieder. Es tut mir leid, ich dachte, du wolltest mich ärgern. Ich wusste nicht, dass du nicht anders kannst. Er versteckte sich wieder hinter der Zeitung.
    Ich schlich mich zum Tisch zurück, setzte mich mit angespannten Muskeln, die Hände auf die Sitzfläche gestützt, um jederzeit fliehen zu können. Andererseits war ich jetzt überzeugt, tatsächlich eine fremde, unverständliche Sprache zu sprechen. Vielleicht, dachte ich, war in der letzten Nacht ein Komet oder so etwas in der Nähe des Hauses niedergegangen und hatte mich verändert. Es gab Filme, in denen ähnliche Dinge geschahen. Ich würde nicht in die Schule gehen. Dem Gelächter meiner Mitschüler wollte ich mich nicht aussetzen.
    Mein Vater lachte plötzlich auf, legte die Zeitung zur Seite.
    »Die Sprache«, sagte er, »hat der Mensch erfunden, um Lügen zu können.«
    Er schob das Frühstücksgeschirr in die Mitte und legte seine Arme auf den Tisch, neigte sich mir zu. »Begreifst du, was die Sprache ist? Sie ist unsere Wirklichkeit. Zwei Menschen reden miteinander und verständigen sich über das,

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