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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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wimmernd in einer abgedunkelten Kammer liegen, sich die Ohren mit Kissen zuhalten und sich wünschen, tot zu sein.

20
    Als ich es bemerkte, war es bereits zu spät.
    Mein Bruder Martin hatte meine Schultasche ausgeschüttet, Hefte und Bücher im Vorgarten aufgeschichtet und angezündet. Er tanzte stumm um den schwarzen Rauch und die Flammen. Eine Krücke hoch in die Luft gereckt, hüpfte er auf seinem einen Bein, wirkte wie ein Insekt.
    Ich rannte in die Küche, begann einen Eimer mit Wasser zu füllen. Es dauerte mir zu lange. Ich lief wieder hinaus, zog den Schlauch vom Rasensprenger ab. Er war nicht lang genug. Ich presste die Schlauchöffnung zu einem kleinen Loch zusammen. Der dünne Strahl hatte genug Druck, um das Feuer zu erreichen. Zu spät.
    Mein Bruder hatte sich versteckt. Er wusste, dass er nicht davonlaufen konnte. Ich holte ihn immer ein.
    Die Bücher und Hefte klebten als verschmolzene Masse zusammen. Ich breitete sie aus, aber kaum etwas war noch vollständig. Nur die dickeren Bücher hatten sich einen lesbaren Kern bewahrt. Doch dann entdeckte ich in den verkohlten Resten auch meine wertvolle Schriftensammlung. Martin musste sich in mein Zimmer geschlichen und sie von der Wand genommen haben. Von allen Menschen, denen ich begegnet war und die eine andere Sprache oder Schrift beherrschten, hatte ich mir einen Satz aufschreiben lassen, ihn jeweils selbst zu schreiben geübt: Ich heiße Gordon Paulson und kann lesen und schreiben. Ich besaß ihn auf Chinesisch, Arabisch, Russisch, Türkisch, Spanisch, Italienisch und Polnisch. Jedes Blatt hatte ich mit gezeichneten Rahmen, Ornamenten und Ranken verziert und rundum an die Wände meines Zimmers gehängt. Sie dienten dem Schutz vor der Willkür meines Großvaters. Ich glättete die Reste und legte sie vorsichtig zum Trocknen aus.
    Das Lachen meines Bruder verriet sein Versteck in der offenen Garage.
    Ich erhob mich und schrie, ich würde ihm jetzt auch das zweite Bein ausreißen. Er hatte sich hinter einer Mülltonne verbarrikadiert und schlug mit den Krücken nach mir. Ich entriss sie ihm und warf die Tonne um. Er flüchtete, hüpfte, kam nicht weit und fiel auf den Rasen vor dem Haus. Ich stürzte mich auf ihn, setzte mich auf seine Brust und schlug ihm mit den flachen Händen ins Gesicht. Er blieb stumm, was mich noch mehr reizte. Ich schlug fester zu, und er gab noch immer keinen Laut von sich. Ich schrie ihn umso lauter an, beschimpfte ihn, und plötzlich spürte ich einen starken Schmerz im Rücken. Ich sprang hoch. Meine Mutter stand hinter mir, hielt eine halbe Kaffeekanne aus Porzellan in der Hand, die sie mit einem Schlag auf meinem Rücken zerbrochen hatte. Ihr Mund war weit geöffnet, als bekäme sie keine Luft, erstickte. Ich langte über meine Schulter. Meine Hand kam blutig zurück. Meine Mutter schlug weiter stumm auf mich ein, und auch mein Bruder, der seine Krücken aufgesammelt hatte, schlug und traf mich, weil ich vor allem der halben Kaffeekanne mit ihren scharfen Kanten auswich. Mit einem Sprung befreite ich mich, lief die Straße entlang, wollte zuerst nicht wieder umkehren. Dann ging ich doch langsam zurück, um meinen Bruder zu töten.
    Martin war nicht mehr zu sehen. Meine Mutter lag zusammengekrümmt vor dem Haus auf dem Rasen, hielt den Kopf mit beiden Armen umschlungen und wimmerte. Erst jetzt begriff ich, dass sie einen ihrer Migräneanfälle hatte, dass sie ihn schon gehabt haben musste, als mein Bruder das Feuer machte. Deshalb war er so stumm geblieben. Mit seiner Tat hatte er meine Mutter provozieren wollen, ihr Zimmer zu verlassen. Und es sollte so aussehen, als wäre ich daran schuld.
    »Du Scheusal!«, zischte sie. Ein Stöhnen folgte, dann wankte sie ins Haus. Sie schloss sich zwei Tage in ihrem Zimmer ein. Ich blieb ein ganzes Jahr ohne Schulbücher, denn sie weigerte sich, mir neue zu bestellen. Mein Bruder Martin hatte sie überzeugt, dass ich sie selbst angezündet hatte. Die Narbe vom Schnitt der Kaffeekanne trage ich noch heute auf dem Rücken.

21
    Ich war schon drei Schritte vom Haus entfernt, als jemand »Hallo« sagte. Die Stimme aus der Sprechanlage gehörte nicht meiner Mutter. Mit einem Sprung war ich zurück.
    »Polizei!«, brüllte ich. »Wir haben eine Klage wegen eines verschimmelten Sojakäses in Ihrem Laden, Frau Paulson.«
    »Frau Paulson ist nicht zu sprechen.«
    »Das macht nichts. Ich muss das nur abgeben.«
    Sie betätigte den Summer. Die Türscharniere gaben den Schrei einer Krähe von sich.

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