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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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von einer Hauswand ab, suchte eine Lücke im Strom der Fußgänger, schlängelte mich bis zum Ladeneingang und drückte die alte Holztür auf.
    Innen herrschte ein vollständiger Gegensatz zum Äußeren. Der Raum war klinisch weiß, roch sogar ein wenig nach Äther. Alles wirkte so sauber, dass ich hinter mich sah, überprüfte, ob ich schmutzige Fußstapfen hinterließ.
    Selbstbedienungsregale reihten sich aneinander. Jedes Produkt war mit zusätzlichen Informationstafeln versehen, die auf Inhaltsstoffe oder auf Erfahrungen mit ihrer Wirkung und Verträglichkeit hinwiesen. Am Ende der Regale stand eine lange Kühltheke. Eine ältere Frau mit zahlreichen roten Pickeln im Gesicht arbeitete dahinter. Sie schnitt für eine Kundin ein Stück von einem Sojakäse ab. Ihre Arme waren bis unter die kurzen Ärmel des weißen Kittels bandagiert. Ich vermutete Nesselsucht. Sie trug ein Stethoskop um den Hals. Wahrscheinlich musste sie ab und zu ihre rasselnde Lunge kontrollieren. Also auch noch Asthma. Vielleicht prüfte sie damit aber auch nur den Reifegrad der Käsesorten. Meine Mutter war nirgends zu sehen. Ein paar Kunden flüsterten hinter den Regalen, lasen sich das Kleingedruckte auf den Etiketten vor. Am Ausgang die Kasse. Ein Mann dahinter, so dünn und gebeugt, dass ich ihm täglich Milch verordnet hätte. In einem Alphabet aus Menschen hätte er ein C darstellen können. Er hatte ein blaues Gesicht. Aus der Nähe sah ich die ausgeprägten Falten unter den Augen. Neurodermitis. Auch er trug ein Stethoskop über dem weißen Kittel.
    »Ist Henriette Paulson da?« Meine Mutter hatte nach der Scheidung ihren Mädchenamen wieder angenommen. Godin klingt wie Käse, hatte sie gesagt.
    »Henriette?« Er sprach den Namen französisch aus. Ich hatte das falsche Codewort benutzt. Nebenbei ließ er die Waren einer Kundin über einen Scanner laufen.
    »Ja. Henriette.« Ich sprach den Namen französisch aus.
    »Nein.« Er zog die Kassenschublade auf. Es lag ein Revolver darin. Meine Mutter musste in der Nähe sein. Er legte einen Geldschein in die Kasse und gab Münzen heraus. Dabei presste er die Ellbogen eng an den Körper und benutzte nur zwei Finger der linken Hand, als wüchsen die Arme aus der Hüfte.
    »Sie ist meine Mutter«, sagte ich.
    Er wartete, bis die Kundin ihre Ware aufgenommen hatte und zur Tür hinaus war, dann beugte er sich über das Laufband. »Wirklich?«
    »Ja.«
    Er betrachtete mich, drehte den Kopf dabei.
    »Wie viele Schwestern haben Sie?« Es war eine Testfrage.
    »Nur einen Bruder mit nur einem Bein. Kommt er oft?«
    »Sie hat ihre Migräne.« Er flüsterte, drehte die Augen nach oben und zog die Mundwinkel herab. Er schien sich darüber zu freuen.
    »Ich verstehe.« Wenn man seine Migräne mit Produkten ohne Milch bekämpfte, war ein Migräneanfall, der bei meiner Mutter oft mehrere Tage dauerte, natürlich geschäftsschädigend.
    »Kommen manchmal andere Verwandte?«
    Er schüttelte den Kopf. »Selten.«
    »Würden Sie mir sagen, wo meine Mutter wohnt?«
    »Tut mir leid, das darf ich nicht.«
    Ich hatte seiner Gestik längst entnommen, dass sie über dem Laden im wahrscheinlich selben Haus wohnte.
    »Ich werde sie besuchen.« Ich wusste, sie würde mir nicht öffnen, nicht in ihrem Zustand. »Sie wohnt hier oben, nicht wahr?«
    »Oh Gott, bitte, sagen Sie ihr nicht, dass ich es Ihnen gesagt habe ...«
    »Wenn Sie mir erzählen, was Sie mit dem Stethoskop machen.«
    »Wir müssen es tragen. Vorschrift.«
    »Und warum?«
    »Es hebt uns hervor, grenzt dieses Geschäft ab. Wir verkaufen Gesundheit. Es ist eine Marketingmaßnahme. Sie verstehen? Und mal ehrlich, wer bei ›Ohne Milch‹ arbeitet, ist ja fast schon Mediziner. Insofern ...«
    Ich ging zur Tür.
    »Danke.«
    Ein weiterer Angestellter kam zwischen den Regalen hervor. Er besprühte hinter mir den Fußboden mit einer Desinfektionslösung, als wäre ich eine Schabe. Ich hielt den Atem an und holte erst auf der Straße wieder Luft. Sie war voller Autoabgase.
    Es gab zwei mögliche Hauseingänge. Bereits im ersten fand ich ein Messingschild mit den Buchstaben HP. In den gravierten Rillen klebten die weißen Reste eines Putzmittels. Die Haustür war verschlossen. Ich drückte auf die Klingel. Nichts geschah. Ich kannte das; wenn ihre Migräne am stärksten war, stellte sie alles ab, was ein Geräusch verursachen konnte. Ich drückte erneut und ließ den Klingelknopf nicht los. Wenn sie die Klingel nicht abgeschaltet hatte, würde sie jetzt leise

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