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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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Er hallte im Treppenhaus. Die sich nach oben windende Treppe umgab einen rostigen Vogelkäfig als Fahrstuhlkorb. Ich ging zu Fuß. Im ersten Stock erwartete mich eine Frau in einem engen rosafarbenen Kostüm mit blauen Pumps und leicht toupierter blonder Frisur. Sie stand in einer Tür, hinter der sich ein Flur öffnete, so breit wie eine mittelalterliche Gasse. Die Wohnung musste riesig sein.
    »Ich bin Gordon Paulson. Das mit der Polizei war ein Witz.«
    Sie war von meiner Verwandlung so überrascht, dass ich mich an ihr vorbei in die Wohnung drängen konnte.
    »Warten Sie, Sie können nicht ...«
    Sie hielt mich am Arm fest. »Wer sind Sie?«
    »Sie hat ihre Migräne, was?« Ich benutzte es als Zugangscode.
    Sie legte die Finger an die rosafarbenen Lippen und vergrößerte ihre Augen. Gespielte Angst. Mit der Hand winkte sie mich in einen Raum. Ein Büro, fast so klinisch wie mein Arbeitsraum. Weiße Möbel, aber hier auf rotem Teppich, ein Meer aus Blut. Sie führte mich zu einer kleinen Sitzecke mit Glastisch, schwarzen Ledersesseln. In einer Glasvase blaue Tulpen – aus Kunststoff. Wir setzten uns.
    »Wer sind Sie?«
    Ich erklärte es ihr. Sie kratzte sich dabei die Schläfen, hielt es auf ihrem Sessel nicht mehr aus, ging zum Schreibtisch, setzte sich dort, schlug die Beine mal links, mal rechts übereinander, fuhr sich mit den rosafarbenen Fingernägeln die Arme entlang. »Sie sind also wirklich ihr Sohn.«
    Ich stand auf, holte meinen Führerschein, meinen Ausweis hervor und reichte ihr die Papiere. »Sie hat sogar zwei Söhne.«
    Sie stand auf, roch an meinen Papieren. »Ich weiß, er war auch schon hier, vor etwa drei Jahren. Und jetzt Sie. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Doris Day.«
    »Sie heißen wirklich Doris Day?«
    »Nein, ich stelle sie dar.«
    »Dafür sind Sie angestellt?«
    »Ich bin Doris Day als Privatsekretärin, Mädchen für alles. Kaffee kochen, Müll runterschaffen und natürlich die Büroarbeiten, obwohl ...«
    Ihr Lächeln verschwand. Meine Mutter war in der Tür erschienen. Sie trug einen mit einem chinesischen Drachen bestickten Bademantel. Eine Sonnenbrille bedeckte die obere Hälfte ihres Gesichtes. Ihr Haar hing wie die verfilzte Mähne eines Schimmels an ihr herab. So grau war sie noch nicht gewesen, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
    »Der Herr Sohn«, sagte sie leise. Ein Schmerz verzog ihr das Gesicht, und sie versteckte ihn hinter beiden Händen. Ich hatte plötzlich den Eindruck, sie spielte ebenso eine Rolle aus einem Film wie ihre Sekretärin. Sie gab mir mit der Hand ein Zeichen, ihr zu folgen. Am Ende des langen Flures ein halbdunkles Zimmer. Schwarze Rollos dichteten die Fenster ab. Licht kam aus einer mit einem Tuch abgehängten Stehlampe. Meine Mutter ließ sich langsam in einen großen Ohrensessel sinken.
    »Ist es immer noch so schlimm?«, fragte ich.
    »Nicht so laut.« Sie deutete auf einen runden Lederpuff in arabischem Stil neben ihrem Sessel. Ich setzte mich. Sie neigte sich in meine Richtung.
    »Was willst du hier?« Sie sprach mit der tonlosen Stimme Marlon Brandos aus dem Film Der Pate.
    »Ich will wissen ...«
    Sie spreizte die Finger und wippte mit den Händen. »Mach die Tür zu.«
    Ich stand auf, schloss die Tür.
    »Ich will wissen«, wiederholte ich gedämpfter, »was Großvater damals vorhatte – mit mir und Martin. Vor allem mit mir hatte er doch irgendein Ziel. Er wollte, dass ich etwas Bestimmtes werde, aber ich denke, ich habe mich allem entzogen, immer das getan, was er nicht wollte. Obwohl ich nicht weiß, welche Absichten er hatte. Neulich habe ich den Kasten wiedergesehen, mit dem er mich gequält hat. Weißt du noch?«
    Sie nickte.
    »Was bedeutete es, dass er mich Sandberge bauen ließ und diese dann immer fotografierte? Später musste Martin das machen. Wieso? Wozu? Und es gab ein Heft. Du hattest es. Darin stand alles, was ich durfte und was nicht. Lebt Großvater überhaupt noch? Ich will seine Adresse!«
    Sie nahm die große Sonnenbrille ab. Ihre Augen waren umgeben von einem einzigen Faltengebirge.
    »Ich wusste, dass du deshalb eines Tages wieder auftauchen würdest. Du bist der Auserwählte.«
    »Was bedeutet das?«
    »Pssst. Du musst ein anderes Mal wiederkommen. Ich kann heute keine lange Rede halten.«
    »Nein, jetzt.«
    »Ich hab zu viel vergessen. Frag ihn selbst.«
    »Er lebt noch?«
    »Sicher.«
    »Wo?«
    »Ich hab mich nicht darum gekümmert. Frag deine Großmutter. Die muss es

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