Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
erst fragen, ob es ihm recht ist.«
»Dann tun Sie das.«
Der Anwalt hielt den Schlüssel vor Dalias Gesicht. »In den Mund?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.
»Die Nase?«
»Auch nicht.«
Er drehte sich zu mir. »Wir haben keine Möglichkeit, Ihren Großvater anzurufen, sondern er meldet sich bei uns. Leider nicht sehr oft. Zwischen seinen Anrufen vergehen manchmal Monate.« Er versuchte, den Schlüssel in Dalias Ohr zu stecken.
»Auch falsch«, sagte sie.
»Wann hat mein Großvater zuletzt angerufen?«
»Gestern.«
»Was wollte er?«
Der Anwalt schwieg.
»Und Sie haben wirklich keine Ahnung, wo er sich befinden könnte?«
Der Anwalt schwieg. Er hielt den Schlüssel vor Dalias Gesicht. Langsam zogen sich die Falten in seinem Gesicht zu einem Ausdruck leichten Schmerzes zusammen. »Das kannst du nicht wirklich meinen, dass er dahin gehört, woran ich jetzt denke.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wieder falsch.«
»Wissen Sie«, sagte ich, »kaufen Sie für das gesamte Geld Gummibärchen.«
»Ich finde es heraus«, sagte der Anwalt. Er hielt den Schlüssel vor sein Gesicht, fing an zu schielen.
»Stopp!«, sagte Dalia. »Ich will nicht, dass du es herausfindest. Er soll es.« Sie zeigte auf mich.
Der Anwalt lachte. Er drehte den Schlüssel, sah in die Bohrung des Schlüsselschaftes.
»Nimm ihm den Schlüssel weg«, sagte Dalia. »Schnell!«
Der Anwalt führte den Schlüssel an die Lippen und pfiff darauf.
Dalia stöhnte. »Jetzt hat er es herausgefunden. Nun gehöre ich zu ihm. Warum hast du ihm den Schlüssel nicht weggenommen? Wenn er jetzt pfeift, muss ich mit ihm gehen.«
Der Anwalt stand auf. »Komm«, sagte er und zog an der Kette. Sie gehorchte. Doch an der Tür befreite sie sich, indem sie ihm die gesamte Kette überließ. Sie kam zu mir zurück, legte ihre Arme um meinen Hals.
»Ich wäre so gern mit dir reich gewesen«, sagte sie. »Aber ich muss tun, was er will.«
»Keine Sorge«, sagte der Anwalt. »Bald werden wir sein Geld haben. Alle Verwandten werden ihn verklagen. Dann braucht er einen guten Anwalt. Mich. Sein Vermögen wird sich nach und nach auf meinem Konto versammeln.«
Er pfiff, sie folgte ihm.
»Tut mir leid«, sagte sie, »wir brauchen dein Geld.«
»Es wird nichts mehr da sein. Es ist mir ernst mit den Gummibärchen.«
4
»Er will dich sehen«, sagte Salina am Telefon. »Du wirst ihn nicht so ohne Weiteres erkennen. Er verkleidet sich. Er macht das immer, wenn er seine Wohnung verlässt.«
»Wo kann ich ihn treffen?«
»Er wird heute wahrscheinlich wie ein Bettler aussehen, ein heruntergekommener Alkoholiker. Er spielt diese Rolle in letzter Zeit immer perfekter. Glaube ihm nicht. Du wirst es schon an seiner Kleidung bemerken, dass es nur Theater ist. Sie ist viel zu sauber.«
»Wo?«
»Richtig. Du musst dich beeilen. Er wartet schon.« Sie beschrieb eine Bar am Bahnhof.
»Ich kann in zehn Minuten dort sein.«
»Dann schaffst du es gerade noch.«
Sie legte auf, und ich rief die Taxizentrale an, aber es war besetzt. Ich sah aus dem Fenster, vielleicht konnte ich ein Taxi anhalten. Es würde das Beste sein, bis zur nächsten Hauptstraße zu gehen und dort eins abzufangen. Ich verließ das Büro. Es war kein Taxi zu sehen. Ich ging in Richtung Zentrum weiter. Zu Fuß wären es zwanzig Minuten. Immer noch kein einziges Taxi. Wenn sich Onkel Frederik nicht länger in der Bar aufhielt, würde ich ihn verpassen. Nachdem ich schon die Hälfte der Strecke zu Fuß zurückgelegt hatte, gelang es mir, ein Taxi zu bekommen. Der Fahrer murrte über das nahe liegende Fahrziel. Ich gab ihm kein Trinkgeld.
Die Bar war vollkommen leer bis auf eine Frau in einer gelben Strickjacke hinter dem Tresen, die mit zusammengepresstem Gesicht Erdnüsse in eine Reihe Gläser füllte. Zu spät.
»War eben ein ziemlich heruntergekommener Mann bei Ihnen?«
»Es gibt keine anderen.«
»Das dachte ich mir schon.«
»Die, die anders aussehen, sind nur verkleidet.« Sie kam mir hinter dem Tresen entgegen. Zog ihre Strickjacke aus. Darunter trug sie eine dünne rote Seidenbluse mit weitem Ausschnitt. Ihre Brustwarzen zeichneten sich ab.
»Was trinken Sie?«
»Ich suche jemanden, der wie ein Bettler aussieht.«
»Freddy.«
»Ja.«
Sie zog die Strickjacke wieder an. »Haben Sie ihn nicht gesehen? Er sitzt draußen, ein Stück rechts.«
Ich ging zum Eingang zurück, streckte den Kopf hinaus. Tatsächlich hockte ein Mann in abgerissener Kleidung an der Hausmauer, von deren Grau er
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