Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
darüber?«
»Hör mir zu. Gordon war fünf oder sechs Jahre älter als ich. Er war klug. Er übersprang in der Schule ganze Klassen, und er begriff, was Vater wollte. Er begriff es. Das muss man sich mal vorstellen. Er begriff es nicht nur, sondern sein Interesse an Gold und Silber war genauso groß. Sie arbeiteten zusammen an ihren geologischen Karten, während ich noch in die Hosen schiss. Einmal reisten wir alle nach Süditalien. Angeblich eine Urlaubsreise, deshalb waren wir alle dabei; aber es ging um ein bestimmtes Gebirge. Sie machten ein großes Geheimnis daraus. Ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein, und deshalb weiß ich die Details nicht mehr so genau. Auf jeden Fall wollten sie uns, Frank und mich, nur dabeihaben, damit es aussah, als würden sie Ferien machen. Es war ziemlich weit im Süden, eine lange Fahrt. Der Berg war wohl auf allen Karten nicht richtig verzeichnet. Es gab dort irgendwo ein verlassenes Bergwerk. Vater wusste, dort konnte man Gold finden. Es ging ihm immer um Gold. Deshalb hatte er einen Ballon mitgenommen, mit einer kleinen Gondel daran. Er wollte die Landschaft von oben sehen, um den verschütteten Eingang zu finden. So muss es gewesen sein. Sie füllten den Ballon mit irgendeinem Gas, aber er hatte nicht genug Auftrieb, um Vater zu tragen. Deshalb durfte Gordon mit dem Fotoapparat einsteigen.
Nun, Vater verankerte eine Winde und befestigte das Seil an der Gondel, um Gordon danach wieder herunterzuziehen. Es herrschte ein starker Wind, und der Ballon trieb etwas ab. Gordon durfte von oben alles fotografieren. Frank und ich, wir legten uns mit dem Rücken auf die Erde und fanden es wunderbar, unseren Bruder über uns am Himmel zu sehen. Ich bewunderte ihn und wäre gern an seiner Stelle gewesen. Aber mich hätte Vater dafür nicht genommen. Ich war für ihn der Idiot, schwächlich, dumm, ungeschickt, und das war ich wohl wirklich. Ich ließ Gläser, Tassen fallen. Wenn bei uns etwas kaputtging, hatte ich es vollbracht. Ich war damals dick, unbeweglich.
Aber auch Frank passte nicht in Vaters Pläne. Ihn hielt er ebenfalls für nicht besonders klug. Stimmt wohl auch. Doch manchmal denke ich, er war schlau genug, den Dummen zu spielen. Gordon wurde uns beiden immer vorgezogen.
Vater rollte die Winde ab und sah nach oben. Plötzlich aber ergriff eine Windbö den Ballon, zerrte so sehr an dem Seil, dass Vater die Winde aus der Hand rutschte. Die Kurbel raste herum und ließ sich nicht einfangen, bis das Ende des Seils erreicht war. Und erst jetzt stellte Vater mit Entsetzen fest: Das Seil war am Ende nicht befestigt. Er hatte es vergessen. Der Ballon schwebte davon, zog das Seil hinter sich her, gewann an Höhe, trieb zum Meer hinaus, wurde kleiner und kleiner – und verschwand. In meiner Erinnerung versuchte Vater nicht einmal, hinter dem Seil herzulaufen.
Na ja, wir gingen zurück zum Auto. Vater fuhr zur Küste, zum nächsten Hafen. Mit einem Boot suchte er das Meer ab. Aber als es dunkel wurde, kam er ohne Gordon zurück. Möglicherweise war er ja mit dem Ballon bis nach Afrika getragen worden? Ich weiß es nicht. Jedenfalls war es genau so, wie ich es dir erzähle. Du kannst es mir glauben. Frag Frank.«
»Ich wusste das alles nicht.«
»Es ist so wahr, wie ich noch trinken kann.«
»Ist es wirklich Gold, wonach er sucht?«
»Klar, es geht um Bodenschätze, um eine Methode, sie zu finden, sie sicher aufzuspüren. Er hatte was ausgetüftelt. Was glaubst du, woher sein Reichtum kommt?«
»Ich hab keine Ahnung. Ich dachte, er hätte technische Erfindungen gemacht. So was wie den Reißverschluss.«
»Ha, du gehörst wirklich nicht dazu, was?«
»Wozu?«
»Ich dachte, du arbeitest mit ihm zusammen, bist der kleine Nachfolger unseres Gordon. Der neue Gordon. Als du geboren wurdest, setzte er alle Hoffnung in dich. Henriette gab dir ganz bewusst diesen Vornamen. Als ich mitbekam, wie sehr er dich quälte und dressierte, brach ich den Kontakt zu ihm ab. Es war unmenschlich. Ich bin froh, dass du dich ihm entziehen konntest. Ich hoffe, es ist verdammt einsam um ihn. Lebt er überhaupt noch?«
»Großvater?«
»Vater.«
»Ja. Ich dachte, du wüsstest, wo er sich aufhält?«
»Was willst du von ihm?«
»Seinen Tod.«
Onkel Frederik legte beide Hände auf meine Schultern. »Ah, du bist wirklich nicht mit dabei. Das freut mich. Andererseits kann es bedeuten, dass er wieder auftaucht, um einen Nachfolger zu suchen. Er denkt, er muss sein Wissen und seinen Drang
Weitere Kostenlose Bücher