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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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sich einen Dreck darum. Sie fragt nicht nach uns … es ist ihr gleich, was wir von ihr denken. Es ist ihr gleich, dass ausgerechnet wir sie nicht abbekommen haben … Sie ist einfach da. Vielleicht hilft mir das sogar ein bisschen …«
    »Du hast dich nie mit Philosophie beschäftigt, Ywha. Sonst würdest du sagen, die Liebe sei eine objektive Realität, die unabhängig von unserer subjektiven Wahrnehmung existiert.«
    »Lachen Sie ruhig! Von mir aus sogar laut!«
    »Ich mache mich nicht über dich lustig. Das ist ein Grundmotiv.«
    »Was?«
    »Das Grundmotiv. Für dich ist es das, was du die Liebe nennst. Für die heutigen Hexen ist es offenbar die Mutterhexe.«
    »Und für Sie sind es vermutlich Ihre Zigaretten. Okay, mir reicht's, ich gehe.«
    Sie war aufgebracht genug, um nicht lange zu fackeln oder sich umzudrehen.
    Die Sonne sank immer tiefer, verkroch sich hinter den Dächern. Schatten wanderte durch die Straßen, die Reklameschilder der zahllosen Straßencafés erwachten, öffneten sich wie die Augen eines Nachttiers.
    Das Banjo in dem Restaurant um die Ecke war verstummt. Jetzt sang dort ein breitschultriger Mann mit erstaunlich blauen Augen zur Gitarre. Er trug ein extravagantes Jackett und zerschlissene Jeans. Ohne auf jemanden zu achten und mit gedankenleerem Kopf setzte sich Ywha an den nächstbesten Tisch.
    »Was wünschen Sie?«
    Zu spät fiel ihr ein, dass ihr Geld nur noch für ein Eis reichte.
    »Ein Eis.«
    »Sonst noch etwas?«
    Der Mann mit den blauen Augen sang gut. Ein Lied über den Frühling und den Regen.
    »Mehr nicht. Nur ein Eis.«
    »Und zwei Cocktails sowie zwei Salate. Du hast doch bestimmt Hunger, Ywha, oder? Wie immer?«
    Sie fuhr zusammen.
    Priw trug Freizeitkleidung. Ein Hemd mit Blumenmuster und helle Hosen. Um seinen Hals baumelte eine Silberkette. Vermutlich steckte die Plakette, die silberne Dienstmarke der Tschugeister, unter seinem Hemd.
    »Danke, aber ich will nichts«, antwortete sie automatisch.
    Priw lächelte.
    Ein unschönes Lächeln. Plötzlich verkrampfte sich Ywhas Bauch.
    »Aber ich will. Sehr. Schon seit Langem.« Er kippte einen der aparten Bistrostühle so, dass er auf einem Bein stand, wirbelte ihn herum, setzte sich rittlings darauf und legte das Kinn auf die Lehne. »Wir beide trinken jetzt etwas. Dann tanzen wir. Ich habe genug von dem Reigentanz. Ich möchte gern mein Mädchen einladen …«
    Der Sänger intonierte ein Lied über den Dschungel und die Sterne. Die Kellnerin brachte zwei hohe Gläser mit einer Flüssigkeit, die in sattem Orange funkelte. Und zwei komplizierte Gebilde aus mariniertem Gemüse.
    Ywha beobachtete, wie die Limonenscheibe an der hohen Glaswand mit ihrer feuchten Seite die bunten Lichter einfing, die im Takt des schnulzigen Liedes flackerten. Ihr eigenes Gesicht kam ihr versteinert vor, tot wie eine Maske. Sie schien kreidebleich. Und offenbar nahm Priw das mit Genugtuung zur Kenntnis.
    »Priw … das war nicht … richtig von mir. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht … beleidigen.«
    »Ach nee?!«
    »Ehrlich! Ich wusste nicht mehr, was ich tat!«
    »Ich habe dich gesucht.« Sein Lächeln kehrte zurück. »An höchst zweifelhaften Orten. Ist es da nicht ein Wink des Schicksals, dass ich dich ausgerechnet in meinem Lieblingscafé treffe? Auf dein Wohl, Ywha.«
    Seine Lippen wanderten ohne jede Anstrengung bis zu den Ohren. Ein alberner Tschugeist, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit – und dennoch saß er ihr gegenüber.
    Ywha drehte sich um. Hoffnungsvoll blickte sie zu den Passanten hinüber, doch es wollte kein bekanntes Gesicht auftauchen. Klawdi war auch schon lange weg, hinabgestiegen in seinen feuchten Keller, wo er zur Abwechslung mal wieder den Abschaum ausrottete.
    Priw ließ das Gemüse krachen. Er warf die Oliven in die Luft und fing sie mit dem Mund auf. Zufrieden grinsend fuhr er sich mit der schmalen Zungenspitze über die Oberlippe. Dann zerbiss er knackend weitere Bestandteile der Salatkomposition, und indem er sowohl die Gabel als auch jegliche Tischmanieren vergaß, verwandelte er die Nahrungsaufnahme in eine Showeinlage. Die Leute an den Nachbartischen kicherten.
    »Es tut mir wirklich leid«, wiederholte Ywha hilflos.
    Priw schob sich in jeden Mundwinkel ein Stück von einer Frühlingszwiebel, was ihn wie einen Vampir mit grünen Eckzähnen aussehen ließ. Eine Grimasse schneidend, mimte er ein Monster. Am Tisch rechts brach man in lautes Gelächter aus. Am Tisch links schnaubte man und wandte sich

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