Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Wort.
»Falls du das jetzt noch nicht verstehst, wirst du es sicher später … Sie bringen jetzt eine andere Hexe, und du solltest versuchen, in ihren Motiven eben dasjenige zu entdecken … das sie letztlich antreibt. Das den Wunsch auslöst, sich selbst zu opfern. Den Wunsch, anderen zu folgen. Und was immer sonst noch. Ich habe keine Ahnung, Ywha! Aber eine solche Triebkraft muss es geben. Es ist das Gefühl … wenn du so willst … das Gefühl einer treu ergebenen Tochter.«
»Ich bin müde«, flüsterte Ywha.
»Was?«
»Ich … kann nicht mehr. Heute jedenfalls nicht. Es geht einfach nicht mehr. Ich bin müde.«
Sie beobachtete, wie Verwunderung und Ärger auf seinem Gesicht der gewohnten Verdrossenheit wichen. Seufzend legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid. Natürlich musst du dich ausruhen. Morgen geht's weiter.«
Die Geheimtür öffnete sich. Der junge Mann, der darin stand, einer derjenigen, die Ywha durch das Palastinnere begleiteten, trat auffordernd in den dunklen Gang zurück.
Auf einmal fühlte sie sich traurig. Einsam und allein. »Vielleicht könnte ich …«
Er dachte bereits an etwas anderes. Ihre Frage riss ihn aus Überlegungen von staatstragender Relevanz, weshalb seine Augenbraue leicht verärgert in die Höhe schnellte. »Was?«
»Könnte ich vielleicht ein bisschen spazieren gehen?«, fragte sie ohne jede Hoffnung. »Ohne Aufpasser?«
Einen Moment lang sah er ihr in die Augen. Dann trat er an die Wand, und Ywha hörte zu ihrer Überraschung das Geräusch eines Lichtschalters. Sofort wirkte die Fackel überflüssig und fehl am Platze. Ywha hatte bisher nicht gewusst, dass sich dieser Raum derart grell beleuchten ließ.
Klawdi drehte sich um und baute sich vor Ywha auf, die, da sie den eindringlichen Blick nicht aushielt, wegsah.
»Ich vertraue dir«, sagte er langsam. »Du kannst so lange Spazierengehen, wie du willst … Na los …«
Erst im Gang, in der Begleitung des Wärters, der nach frisch gegerbtem Leder roch, erreichte sie sein Ruf: »Ywha!«
Erschaudernd blieb sie stehen.
»Ich begleite dich ein Stückchen. Du hast doch nichts dagegen?«
Die Sonne ging unter.
Durch die Straßen strich heißer Wind; Staub, Pappelflaum und Bonbonpapier strömten in kleinen Windhosen. In den Kellern der Inquisition ist es das ganz Jahr über gleichbleibend feucht und kalt, dachte Ywha. Aber dort drüben an der Kreuzung gab eine Schar sportlicher Mädchen, die erfolglos versuchte zu trampen, mit ihrer bronzenen Sonnenbräune an, mit dieser Art Bräune, wie man sie sich in langen und tristen Stunden am Strand erliegen muss.
Trotzdem blieb selbst ein verregneter Sommer ein Sommer!
Sie atmete tief ein. Der Wind spielte mit den leichten, kurzen Röcken dieser ausgelassen wirkenden Frauen – und fuhr stumpf in den undurchdringlichen Stoff von Ywhas Jeans. Beschämt zog er daraufhin ab.
Der Wind. Die Erde tief unten.
In den heißen Wind mischte sich eine einzelne eisige Brise. Eine Brise jenes Nachtwinds. Ywha erschauderte – und die Brise verschwand.
»Möchtest du ein Eis?«
Ywha schüttelte den Kopf. Sie hatte den Eindruck, Klawdi würde still vor sich hin unablässig mehrstellige Zahlen dividieren. Während er sich mit ihr unterhielt, dachte er über sie nach – und noch über etwas anderes. Und dann auch noch über etwas Drittes.
»Was willst du denn überhaupt machen? Willst du runter zum Strand? Oder shoppen?«
Ywha stöhnte traurig.
Es gehörte sich nicht, einen viel beschäftigten Mann von der Arbeit abzuhalten. Klawdis Gesicht glich einer Sanduhr, und die Zeit, die er für die junge Hexe abzweigte, war bereits fast durchgerieselt.
Hier, außerhalb des Kellers, interessierte sie ihn nicht. Gleich würde er ihr die Frage stellen, deretwegen er seine wichtigen inquisitorischen Aufgaben unterbrochen hatte. Er würde sie stellen, eine Antwort erhalten und weggehen. Allein könnte Ywha dann Ordnung in ihre Gedanken und Gefühle bringen, durch die Stadt schlendern wie ein freier Mensch … Und so viel Eis essen, wie sie mochte. Denn wie es ein glücklicher Zufall wollte: Sie hatte die Tasche voller Kleingeld.
»Was bedrückt dich, Ywha?«
Ein gute Frage.
Ein Teenager skatete an ihnen vorbei. Er sprang auf die Fahrbahn, machte vor einem empört hupenden Auto eine Kehrtwende, flog wieder auf den Gehsteig und verschwand johlend um die nächste Ecke.
»Fällt dir sehr schwer, was du machst? Wozu ich dich zwinge? Indem ich dich, wie ich es gewohnt bin, unter
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