Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Worte, die ihre Seele wie ihren Körper trunken machten, die Kuh wie auch die in einem Unterschlupf erstarrten Menschen, das heißt: verzauberte, reglose, gierige Männer.
Gedankenverloren schritt sie weiter. Die weit aufgerissenen, großen Augen dieser Männer gingen sie nichts an.
Auch das Auge des Mondes stand offen. Das weiße Euter berührte das hohe Gras. Sie berauschte sich an Kraft. Weder gebrauchte sie diese Kraft noch gab sie ihre Existenz preis; sie trug sie einfach in sich, wie einen randvollen Melkeimer. Und ihre Kraft glich der Milch, roch nach Gräsern und Blumen.
(Such das Grundmotiv. Das Grundmotiv. Das Grundmotiv.)
Das Auge des Mondes zwinkerte. Über die weiße Pupille kroch eine wurmlange dunkle Wolke. Die Kuh wackelte verschreckt mit den Ohren. Nach wie vor war kein Laut zu hören, aber in den überwältigenden Geruch des nächtlichen Feldes schlängelte sich ein beißender Rauchfaden.
Von Krämpfen geschüttelt, seufzte sie.
Die Welt war leer, ihr Glück eine Illusion. Die Welt war leer, die Kuh Nippes aus Porzellan, die Kraft ein Windhauch, der kaum über das Gras strich …
(Such!)
Sie war eine Tochter, die sich verirrt hatte. Sie würde die Mutter nicht finden, zu groß war das Feld, zu hoch stand der grüne Roggen.
Ywha fing an zu weinen.
»Damit will ich keineswegs behaupten, jede junge Frau stelle gegenwärtig eine Gefahrenquelle dar. Mehrheitlich sind Frauen für die Gesellschaft sogar von größtem Nutzen. Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen die Augen auch nicht vor den Fakten verschließen. Ist Ihnen bekannt, dass sich allein im letzten Monat die Gesamtzahl der Hexen verdoppelt hat? Natürlich ist das geschehen! Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich binnen der nächsten Woche verdreifacht. All die bescheidenen und ehrlichen Frauen, deren sich unsere ruhmreiche Inquisition so väterlich angenommen hat, indem sie sie registriert und ihnen damit die Freiheit geschenkt hat – all diese sind heute aktive Hexen. Es sind diejenigen, die morgen das Wasser in unseren Brunnen vergiften. Sie schicken uns Pest und Hunger an den Hals. Ja, meine Damen und Herren, wir haben unterdessen alle vergessen, was das bedeutet. Doch vielleicht haben die Hexen bereits in einem Jahr ihre eigene Inquisition! Und dann werden wir, die wir nicht zum Hexenzirkel gehören und folglich in einem Jahr in der Minderheit sein werden, registriert und ins Gefängnis gesteckt. Dann werden die Hexen die Welt regieren. Können Sie sich überhaupt vorstellen, was das heißt?«
Ywha kannte den Sprecher. Letztes Mal hatte sie ihn ebenfalls im Fernsehen gesehen; damals hatte er auf einer Parkbank gesessen, mit dem Rücken zu Tauben, die über den Rasen stolzierten; das dem Zuschauer zugekehrte Gesicht war gepixelt gewesen. »Ja, meine Herren! Der Inquisition stehen bereits heute Mittel zur Verfügung, die es ihr erlauben, einer Hexe ihre, wenn man so will, Hexenschaft zu nehmen! Sie in gewisser Weise zu reinigen! Nachzubessern! «
Diesmal trat er offen auf, mit einem unmanipulierten Gesicht. Spöttische Augen, in denen nicht der Schatten eines Zweifels lag, ein heller Bartstreifen unter der kleinen Nase und ein glatt rasiertes Kinn.
»Machen Sie sich nichts vor! Schnuppern Sie nicht an einer Rose, wenn um Sie herum stinkende Scheiße quillt! Schlüpfen Sie endlich in den Mantel des Bürgers zweiter Klasse! Freunden Sie sich mit Ihrer Nachbarin, der Hexe, an, vielleicht legt sie ein gutes Wort für Sie ein! Das schmeckt Ihnen nicht?! Dann rufen Sie dem Herzog in Erinnerung, dass Sie ein Bürger sind! Dass Sie Steuern zahlen! Dass die hilflose Einrichtung, die sich Inquisition nennt, Sie entweder bedingungslos zu verteidigen hat oder ihre Tätigkeit einstel …«
»Wer ist das?«, fragte Ywha, während sie den Ton leiser stellte.
Der Referent, der im Vorzimmer das Kommando führte wie ein Kapitän auf der Schiffsbrücke, riss sich kurz von seiner Beschäftigung los. »Ein Politiker.«
Ywha stellte keine weiteren Fragen. Das Wort »Politiker« klang im Mund des Referenten wie ein dreckiges Schimpfwort. Der Großinquisitor selbst schien Politikern kaum gewogener zu sein.
Sie senkte den Blick. Ein Mann, der vor vierhundert Jahren gelebt hatte, der Großinquisitor Atryk Ol: Er hatte nicht angenommen, dass sein detailreiches, nur für den Hausgebrauch verfasstes Tagebuch dereinst entziffert, behutsam an die Sprache seiner Nachfahren angepasst und zur Verwendung innerhalb der Inquisition herausgegeben
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