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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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blaue Ader. Der Geruch der Wolken. Flocken tanzten um ihre Füße, durch Risse hindurch schimmerte die Erde. Über ihr glühte ein heißer Mond, prangte ein klar erkennbarer Ring in der leeren, funkelnden Ebene. Immer höher stieg sie auf …
    Eisiger Wind nahm ihr den Atem. Der Mond kam und kam nicht näher. Ywha lachte. In ihrem Rücken flatterten ihre Haare, verflochten sich mit dem Wind und den Wolken. Sie streckte den Arm aus.
    Der Mond war kalt, der Ring brannte.
    Der Ring lag auf ihrem Handteller, quecksilbern, diamanten, gleichermaßen eisig wie glühend. Den Blick auf den wolkenverhangenen Mond gerichtet, streifte sie sich den Ring über den Finger.
    Eine fettige, grünliche Brühe kochte auf, brodelte über den Rand des Topfes. Auf ihrem Handteller zitterte ein warmer Körper, eine betäubte Maus. Bedächtig spreizten sich ihre Finger, das kleine graue Wesen flog in den Kessel, die Brühe schäumte glücklich, den Körper erfasste ein Krampf, dem beim Höhepunkt des Liebesakts ähnlich. Ywha öffnete eine kleine Puderdose, spuckte kräftig auf den puderbestäubten Spiegel. Der Speichel brachte das Glas zum Bersten; Ywha klaubte einen Splitter in Gestalt eines schiefen Sterns heraus und warf ihn der Maus hinterher – in die Brühe. Schrumpfe, schrumpfe, dörre aus, vergiss deinen Namen, vergiss deine Kraft, schrumpfe, schrumpfe, dörre aus …
    Sich gemächlich im beißenden Rauch drehend, flog der silberne Mondring dahin.
    Die Oberfläche der Brühe glättete sich.
    Am Boden der kristallklaren Flüssigkeit lag ein weißes Mäuseskelett.
     
    »Warum haben Sie mir nie etwas über das Zeichen der Kette erzählt?«, wollte sie im Auto von dem finster dreinblickenden Klawdi wissen.
    »Bitte was?« Er verzog die Lippen.
    »Ach, nichts«, antwortete Ywha, die nachdenklich zum Fenster hinaussah.
    Sie hätte sich also nur das Zeichen der Kette beschaffen müssen. Dafür hätte sie sogar die Initiation auf sich genommen! Doch selbst ohne diesen Schritt hätte sie an das Zeichen herankommen können. In kleinen Dörfern gab es immer hilfsbereite alte Hexen, an die sich Leidgeprüfte jeder Art wenden konnten.
    »Was für eine interessante Frage«, sagte Klawdi, und in seiner Stimme klang unverhohlen Verachtung mit.
    Das nahm ihm Ywha krumm. Dabei kränkten sie weniger seine Worte als vielmehr sein Ton. Als ob er ihr einen kalten, nassen Lappen übers Gesicht gezogen hatte. Als ob er sie ausgepeitscht hätte.
    Worüber seine Durchlaucht, der Herzog, und der Großinquisitor der Stadt Wyshna heute wohl gesprochen hatten?
    »Mich interessieren halt alle möglichen Dinge«, entgegnete Ywha kalt. »Ohne – ich betone: ohne – das geringste Recht, in der Seele eines Menschen herumzustochern, das ist selbstverständlich nichts anderes als ein netter Scherz. Aber zu versuchen, einen geliebten Menschen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zurückzubekommen, das ist derart widerwärtig, dass Sie die Nase über mich rümpfen.«
    »Das ist schon seltsam«, murmelte Klawdi gleichmütig. »Ich habe deine intellektuellen Fähigkeiten für weitaus höher gehalten.«
    Beleidigt schmollte Ywha lange vor sich hin.
     
    In der kleinen Wohnung, die Ywha inzwischen insgeheim als die ihre bezeichnete, duschte sie noch, dann schlief sie vor dem Fernseher ein. Allein in dem ackergroßen Bett einzuschlafen war allzu traurig und bitter. Der Fernseher gab seine Dummheiten von sich, dies jedoch mit fast menschlicher Stimme. Sie döste, bis das Läuten des Telefons sie aus dem Sessel schrillte.
    »Das Zeichen der Kette«, erklärte Klawdi, ohne sie zu begrüßen, »ist ein sicheres Mittel, jedes gute Gefühl … abzutöten. Wenn ein Mensch nicht ohne einen anderen leben kann und der Grund dafür seine Abhängigkeit von diesem anderen ist, purer Zwang also – was dieser andere Mensch übrigens ganz genau weiß –, so ist das eine ausgesuchte Form der Folter, Ywha. Als ob du zwei Menschen, die sich lieben, Handschellen anlegst, die sie nie wieder abnehmen können. Fetischisten sollen es gerade deshalb schon versucht haben.«
    Schweigend presste Ywha den Hörer an die Wange.
    »Du wirst lachen, aber ich habe schon Hexen gesehen, die einzig und allein deshalb die Initiation auf sich genommen haben.«
    Ywha befeuchtete sich die Lippen.
    »Aber sie haben sich geirrt, Ywha. Nach der Initiation … Also, um es kurz zu machen, eine aktive Hexe hat überhaupt nicht mehr das Bedürfnis, jemanden zu lieben. Die Liebe macht sie, hm, zu abhängig.

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