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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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werden würde. Im Kerzenlicht mit der Gänsefeder übers Papier kratzend – und Ywha war überzeugt davon, dass eine Feder, noch dazu eine Gänsefeder, kratzen musste –, hatte Atryk Ol minutiös alle Eindrücke des zurückliegenden Tages auf Papier festgehalten, ohne an zukünftige Leser zu denken oder sein eigenes schlimmes Los zu ahnen. Das Buch, das Ywha von der letzten Seite zu lesen angefangen hatte, machte einen befremdlichen Eindruck auf sie, da es sie gleichzeitig fesselte und mit Traurigkeit erfüllte.
    Der letzte Eintrag datierte vom Todestag des Autors und wirkte zusammenhanglos, zerrissen und unvollendet.
    »Gestern peinigte mich starker Schmerz in der rechten Bauchhälfte, weshalb ich meinen Eintrag nicht vollendete und erst heute Morgen das Ausgelassene nachtrage: Meine Herrinnen – die Hexen – scheinen von ihrer eigenen Hände Tat selbst erschrocken, denn am gestrigen Tag stieg das Wasser keinen Fingerbreit. Das versichern zumindest die Menschen, das versichert das noch in der Stadt verbliebene Geschmeiß, vermutlich nimmt sogar der Herr Herzog selbst es an. Und ich werde mich nicht anschicken, sie von ihrem Glauben abzubringen, dieweil eine jede Hoffnung wärmt und sättigt, wo Holz und Nahrung fehlen. So mögen sie sich mit der Hoffnung trösten […]. Ich allein zweifle hingegen keinen Augenblick daran, dass meine Herrinnen nicht über die eigenen Gräuel erschrocken sind. Wenn das Wasser heute nicht steigt, dann wird morgen nur umso größeres Unheil dräuen.
    Mithin habe ich, dem allein es an Hoffnung gebricht, entzöge eine solche Hoffnung mir doch jedwede Kraft, meinen Herrinnen einen würdigen Empfang zu bereiten. Nun, da die Mutterhexe so nahe ist, dass ich, ihren Geist witternd, keinen Schlaf finde […]. Und noch heute wird sich um ihren Hals die eiserne Zange schließen, die mein Wille geschmiedet.
    Klagend kommen die Menschen zu mir und fragen mich: Warum eilt die große Kraft, welche die Welt erschaffen hat, uns nicht zu Hilfe? Ich antworte ihnen: Warum seid ihr selbst so hilflos? Warum sind einzig meine Herrinnen – die Hexen – frei und stark, mag die Kehrseite ihrer Freiheit auch das Böse sein?
    Ich habe eine Welt geschaut, in der meine Herrinnen mit Stumpf und Stiel ausgerottet sind. Öd, grau und unfruchtbar war sie. Eine Welt indes, in der meine Herrinnen sich ungehemmt vermehren, ist noch hundertfach schrecklicher. In ihr gibt es kein Morgen, kein Stein wird auf dem anderen bleiben, sondern in den nie versiegenden Strom aus Wasser und Landmasse gespült, und kein Palast wird noch stehen, sobald ihm jeder feste Grund entzogen, der da ist unsere Pflicht und Schuldigkeit. Sie werden gleich einer Kette unseren Willen knechten, uns damit freilich auch erst die Kraft zum Leben verleihen.
    Ein rotlatziger Vogel, auch Schneeammer genannt, bittet unterm Fenster um Brot. Ich befehle der Magd, ihn zu füttern, in diesen kargen Tagen bemächtigt sich selbst ihrer der Geiz.«
    An dieser Stelle endeten die Aufzeichnungen. Allem Anschein nach hatte der Großinquisitor Atryk Ol in seinem Leben keine weitere Zeile geschrieben, von einer Unterschrift unter einen letzten Befehl vielleicht abgesehen. Ein kurzer Kommentar teilte mit, dass »infolge eines direkten Kontakts mit der vermeintlichen Mutterhexe, der wohl zum Tod Letzterer führte, der Inquisitor Atryk Ol völlig entkräftet und teilweise erblindet war, worauf die in der Stadt versammelten unzähligen Hexen schrankenlose Macht über ihn erlangten. Der Stich eines unbekannten Künstlers, offenbar ein Augenzeuge der Ereignisse, hält den Augenblick von Atryk Ols Tod fest. Die Hexen hatten ihn geteert, in Stroh gewälzt und angezündet.«
    Ywha blinzelte. Sie hob den Blick und schaute zum Fernseher.
    Im Gesicht des Kommentators spiegelte sich gezügeltes Mitleid, als habe er das Zimmer eines schwer kranken und ihm völlig unbekannten Menschen betreten. Dann erschien eine Frau in mittleren Jahren, die Kamera erfasste sie fast von hinten, die Zuschauer bekamen nur den Nacken, ein Ohr und den Rand der Wange zu sehen. Ywha griff zur Fernbedienung.
    »… und daraufhin bin ich zu ihr gegangen, weil es mir unmöglich geworden war weiterzuleben.«
    »Hat er Sie betrogen?«
    »Ja, und … unseren Sohn hat er in … irgendeine Bande eingeschleust oder in eine Clique. Da bin ich zu ihr gegangen und habe gesagt: Hilf mir, Mütterchen, ich kann nicht mehr …«
    »Und hat sie Ihnen geholfen?«
    »Ja. Ich habe sie mit Wodka bezahlt, mit Geld … und

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