Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
Zärtlichkeit breiteten sich in Ywha aus. Fast wie damals, als ihre Mutter ihr nachgeschaut hatte, von der Schwelle aus. Der Schlangenkörper ringelte sich um die Erinnerung an die Mutter, wand sich um sie, doch das war nicht schrecklich, das war eher …
    Der Laster bremste ab und blieb stehen; kurz darauf schrie Ywha los.
    Sehnsucht und Zärtlichkeit. All das benahm ihr die Luft zum Atmen. Es ging zu tief, es war zu schmerzhaft. Jetzt aber wusste sie die Wahrheit über die Welt, und die war so schön und ganz und gar unerträglich, ganz so als erblicke ein Blinder im hohen Alter zum ersten Mal den Himmel.
    »Was schreist du so?«
    Die Vision endete. Einige Sekunden lag Ywha mit geschlossenen Augen da und versuchte, die Bilder zu vergessen. Es war zu schön, das durfte man nicht in sich tragen, für eine rothaarige Frau war das zu viel.
    Die Vision erbarmte sich ihrer und verlor an Leuchtkraft. Sie hinterließ einen diffusen Schatten.
     
    »Patron, Sie haben darum gebeten … Eine Hexe, wie Sie sie beschrieben haben. Sie ist aus einem Dorf hierhergebracht worden. Eine rothaarige. Sie haben darum gebeten, informiert zu werden.«
    Klawdi zwang sich, den schweren Kopf zu heben. »Bringen Sie sie in den Verhörraum, zu Hljur, der hat jetzt Dienst … Nein, warten Sie. Erst sehe ich sie mir an.«
    Hinter ihm lagen zwei schlaflose Nächte. Oder waren es schon mehr? Wann hatte er eigentlich das letzte Mal wenigstens fünf Stunden am Stück geschlafen? Wann war das gewesen? In welchem Leben?
    Er stemmte sich vom Stuhl hoch. Aus der Schreibtischschublade holte er einen Filzstift, trat an die holzgetäfelte Wand, konzentrierte sich und führte das Zeichen des Spiegels mühevoll aus. Es glückte ihm nicht sonderlich gut, würde jedoch während der nächsten zwanzig Minuten funktionieren. Er atmete tief ein und schuf zwischen sich und dem Spiegel mental das Zeichen der Linse. Gut. Er atmete noch einmal ein, dann wieder aus. Anfangs schmerzte es ein wenig, doch er schickte seinen Willen sowohl in die eine wie auch in die andere Richtung, er spiegelte sich, kroch durch die Linse – was etwa genauso angenehm war, wie die Finger in den Fleischwolf zu stecken. Trotzdem fiel es ihm nun schon leichter. Er erhielt neue Kraft, in Form der eigenen, vielfach potenzierten Möglichkeiten. Jetzt war er stark und frisch, nun konnte er es mit der Mutterhexe aufnehmen.
    Er grinste schief.
    Schließlich zerstörte er das Zeichen der Linse und verwischte das des Spiegels, das daraufhin wie ein krummes, leicht schweinisches Bild aussah, das Graffito eines dämlichen Teenagers. Er würde den Referenten bitten, es abzuwaschen.
    Längst hatte er jede Hoffnung verloren, Ywha wiederzusehen. Dennoch machte er sich auf, ging die Treppe hinunter; der Fahrstuhl funktionierte schon lange nicht mehr. Kein einziger Fahrstuhl in dem riesigen Gebäude funktionierte noch. Genau wie das Licht. Die Fackeln in den Kellergewölben hatten ihre dekorative Funktion eingebüßt und waren zu einer bitteren Notwendigkeit geworden. Selbst in seinem Büro brannte jetzt nachts eine Fackel.
    Das federleichte Seidengewand. Einem Impuls folgend, schleuderte Klawdi es fort. Wozu noch diese zeremonielle Kleidung? Dann besann er sich jedoch eines Besseren und zog es an. Wenn schon der Großinquisitor die Tradition vernachlässigte, was sollte man dann erst vom einfachen Security-Personal erwarten?
    Betont sicher und fest ausschreitend, lief er an dem Wachtposten des Gefängnistrakts vorbei. Fragend sah er den Dienst habenden Inquisitor an. Der erhob sich, ein bleicher Mann, den Klawdi kaum kannte. »Zelle 107. Soll ich Sie begleiten?«, erkundigte er sich.
    Klawdi nickte. Die 107 war eine finstere Zelle, die nutzte man nicht in Bagatellfällen.
    Bereits auf der eisernen Wendeltreppe, die in den Keller hinunterführte, witterte er die Hexe.
    Diesen Abschaum von einer Hexe. Diesen ekelhaften Abschaum! Sie war nicht nur eine starke Hexe, sie war stark und auch raffiniert. Entweder eine Banner- oder eine Schildhexe. Wo kamen die überhaupt alle her? Woher stammte diese Pest, diese Mutanten und Monster, diese Mischtypen mit den sagenhaften Brunnen? Diese unmenschliche Bosheit?
    »Man hat sie in Podralzy festgenommen«, erklärte dieser Inquisitor bedrückt, der ihm kaum bekannt war. »Sie war bewusstlos. Man hätte gleich kurzen Prozess mit ihr machen sollen. Tut mir leid, Patron. Gut, Sie haben befohlen, alle Rothaarigen vorgeführt zu bekommen. Wollen Sie sie sehen?«
    Klawdi

Weitere Kostenlose Bücher