Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Mutterhexe aufhalten könnte. Klawdi tigerte durchs Zimmer, unter seinen Füßen raschelten wie Herbstlaut detaillierte Karten von Dörfern und Ortschaften, Gebieten und Kreisen.
»Noch ein paar Tage – und wir haben verloren.«
Seine Kollegen schwiegen.
Sie hatten ihre Familien schon seit Langem aus Wyshna herausgebracht, noch in Erste-Klasse-Waggons, weit weg, in die Berge, an menschenleere Orte. Ihre Ehefrauen genossen jetzt Hotelkomfort, machten sich Sorgen um sie und hörten die Nachrichten aus Wyshna im Radio. Doch heute Morgen gab es keine Nachrichten. Aus den Lautsprechern drang nur ein monotones, unerschütterliches Knistern.
Die Fenster waren fest verschlossen. Die Klimaanlage brachte auch keine Linderung. Im gesamten Palast der Inquisition, selbst in den Kellern, stand dicker Rauch. Die Hälfte der Städte brannte langsam ab.
Das Telefon funktionierte nicht mehr. Die Verbindung zu den Provinzen musste über Funk gehalten werden, bei der Übertragung gab es jedoch immer mehr Schwierigkeiten.
Die Gehsteige und das Kopfsteinpflaster der herrlichen Stadt Wyshna ertranken in Müll und Exkrementen. Der Inhalt der Kanalisation drückte die gusseisernen Gullideckel hoch und verwandelte die Straßen in stinkende Flüsse.
Mit einem Schlag fielen sämtliche Blätter von den Bäumen.
Der Herzog hatte die Stadt gestern verlassen. Der Hubschrauber, der bereits seit zwei Wochen auf dem Dach seiner Residenz gestanden hatte, hatte sich nun in die Luft erhoben und war davongeflogen.
Chaos und Panik herrschten und hinterließen eine leere Welt. Eine Welt, in der die Hexen erstarkten.
Die versteckte Kamera, die in den Ruinen des Opernhauses installiert worden war, fing kurz eine graue weibliche Figur ein.
Die ein Gespenst von Helena Torka zu sein schien.
»Klawdi, Sie sind ein guter Mensch.«
»Wenn wir in den nächsten Tagen keinen Durchbruch erzielen …« Er knirschte mit den Zähnen.
Diese Worte konnte er sich im Grunde sparen, das wusste er.
Noch vor Kurzem – oder war es unglaublich lange her? –, also vor anderthalb Monaten hatte er die Hexen gefoltert, die in Odnyza geschnappt worden waren. Er hatte sie gefoltert und damit etwas über das Schicksal in Erfahrung gebracht, das den Menschen im Stadion drohte. Er hatte sich die Hände bis hoch zu den Ellbogen schmutzig gemacht, obwohl er wusste, dass er diesen Dreck niemals wieder würde abwaschen können. Mit Blut und Scheiße hatte er sich besudelt – aber würde er die Katastrophe abwenden können?!
Wenn er doch nur eine Lösung wüsste. Ohne zu zögern würde er kopfüber in Scheiße springen, bis über beide Ohren in sie eintauchen, wenn er dem Ganzen nur Einhalt gebieten könnte.
Noch gestern, unter den Blicken der Kuratoren, hatte er sich so selbstsicher und stark gefühlt wie nie zuvor.
Heute musste er voller Entsetzen feststellen, dass er sich geirrt hatte. Er hatte seine Kräfte überschätzt. Die Mutterhexe hatte es nicht auf ein Duell angelegt. Sie spielte mit ihm wie die Katze mit der Maus.
»Ich allein zweifle hingegen keinen Augenblick daran, dass meine Herrinnen nicht über die eigenen Gräuel erschrocken sind.«
»Mithin habe ich, dem allein es an Hoffnung gebricht, entzöge eine solche Hoffnung mir doch jedwede Kraft, meinen Herrinnen einen würdigen Empfang zu bereiten. Nun, da die Mutterhexe so nahe ist, dass ich, ihren Geist witternd, keinen Schlaf finde. […] Und noch heute wird sich um ihren Hals die eiserne Zange schließen, die mein Wille geschmiedet.«
Nein, Klawdi witterte sie nicht. Sein Wille blieb tatenlos. Seine fünf Kollegen, die die Nacht in den Kellern zugebracht hatten, wagten es nicht, ihm in die Augen zu sehen.
Weit unten, nur knapp über ihrem Kopf, hing tief eine böse rote Sonne. Eine sengende, glühende, an eine Stahlspirale erinnernde Sonne. Ywha unterdrückte ein Stöhnen. Sie versuchte, sich zu bewegen – doch ihre Arme waren wie tot. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Die Angst fachte ihre Kräfte an, ließ sie immerhin die Lider aufschlagen.
Die gelbe Schlange war fort. Es war dunkel. Und nur knapp über ihrem Kopf brannte ein roter Fleck.
Sie erschauderte. Sie erinnerte sich an alles. Fieberhaft versuchte sie, sich zu konzentrieren, um sich die entscheidende, die wesentliche Frage zu stellen: Bin ich noch ich? Hat niemand anders von mir Besitz ergriffen, sich in meinem Bewusstsein eingenistet, in meiner Erinnerung? Bin ich noch immer die alte Ywha?
Sie lag auf der Seite, in einer
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