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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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Brunnen auszumessen.
    Da war kein Brunnen.
    Das hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Brunnen. Das war ein schwarzes Loch. Ein Riss im Raum.
    In der nächsten Sekunde verlor er das Bewusstsein. Und darin lag ein außerordentliches Glück. Denn er musste nicht mitansehen, wie Ywha ihren langen Weg auf dem Rücken der grinsenden gelben Schlange vollendete.

12
    … Ein Festtag.
    Ein überwältigender Festtag. Nadelgleiche Lichter, die, sich vereinigend, zu ihr flossen, Tausende von Augen, die ihr gehörten, eine Nacht voller Augen, ein Himmel voller Augen, ihre Freiheit, angespannt und gierig wie eine Sehne.
    Bewegungen. Schritte, unter denen die Erde erzitterte; etwas Rotes, Dunkelrotes, Feuerrotes, Blutrotes, und Schritte, wieder Schritte, die näher kamen – und sie alle gehörten ihr!
    Weißer Stoff zerriss. Zärtlichkeit. Kinderhände, die sich ihr durch die schwarzen Fetzen der Nacht entgegenstreckten. Eine Zärtlichkeit ohne Schmerzen, denn sie sind für immer ihre ; es zitterte die Erde, unter einem langsamen Tanz, unter einem traurigen Tanz auf einer Trommel, in die sich der Himmel verwandelt hatte, unter einem triumphierenden Marsch, denn sie alle kamen her, flogen und krochen, sammelten sich und erreichten endlich ihr Ziel, wurden zu ihr selbst, während sie näher und näher kamen …
    Sie alle wurden sie.
     
    Ywha kam in einer großen und dunklen Straße wieder zu sich, vermutlich einer Chaussee. Sie brauchte kein Licht, denn ihre Haare bildeten eine flammende Aureole, sie war vollkommen frei und allein auf der Welt, sie sog die Welt in sich ein, setzte sich selbst an die Stelle der Welt. Die Nacht, überraschend warm, stand reglos im Zenit und erzitterte am Horizont, raschelte mit Hunderten von Flügeln, flog, fiel, flog …
    Ywha brach in schallendes Gelächter aus.
    Ihre Kinder eilten auf ihren Ruf zu ihr hin. Sie durchbrachen die Absperrungen, fegten die Verbotszeichen fort und rissen den Beton auf. Selbst nach dem Tod würden ihre Kinder noch zu ihr eilen.
    Sie rieb sich die Handgelenke, an denen die Holzblöcke blutige Armreifen hinterlassen hatten. Fragmente ihrer Erinnerung bewahrten noch den Palast, der sich in den Himmel bohrte, die Ketten, die ihr den Willen raubten, und den Mann in dem schweren Panzer des Inquisitors.
    Klawdi.
    Dieser Name störte für einen kurzen Augenblick die Harmonie, die Nacht büßte ihre Konturen ein, und in ihren Haaren, die sich aufgestellt hatten, knisterte trocken eine blaue elektrische Entladung.
    Klawdi …
    Die Welt um sie herum dröhnte wie ein Orchester. Die Welt sang und verströmte Gerüche. Nicht sie hatte sich verändert, sondern die Welt.
    Wieder lachte sie laut auf. Der Rhythmus einer majestätischen Prozession, der die Nacht durchdrang und der Ywha durchdrang, ein über alles triumphierender Rhythmus nahm das Zepter wieder in die Hand.
    Sie legte sich auf die Straße, streckte sich aus und presste das Ohr gegen die Erde.
    Und hörte die Schritte.
    Ihre Kinder kamen. Es würde nicht mehr lange dauern.
     
    Eigentlich hätte das Telefon schon längst klingeln müssen. Sicher, das Netz war vor einigen Tagen zusammengebrochen, trotzdem hatte das klingelnde Telefon nichts Mystisches an sich, denn seine Schnur mündete nicht in die Steckdose; es gab überhaupt keine Schnur, sondern lediglich eine komische Antenne mit einer Kugel am Ende.
    Das war aber nicht weiter verwunderlich. Schon gar nicht angesichts der verblüffenden Tatsache, dass Klawdi Starsh immer noch lebte. Lebte und handlungsfähig war, selbst nachdem er ihr von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte.
    Die Keller des Palasts existierten nicht mehr. Sie waren eingestürzt – weshalb sich der Fußboden in seinem Büro verdächtig neigte. Alle in den Kellern gefangen gehaltenen Hexen waren geflohen, die Erde hatte gebebt, er selbst war im letzten Moment noch entkommen. Dabei hätte ihn das Wesen in diesem Augenblick problemlos zerquetschen können, zertreten wie eine Assel.
    Er holte tief Luft und rieb sich fest über die Nasenwurzel.
    Das Telefon klingelte.
    Klawdi ließ den Blick über die Bürowände gleiten, die mit Schutz- und Hilfszeichen bemalt waren. Er schaute zur Tür ins Vorzimmer hinüber, hinter der der Inquisitor Hljur schlief, der dem Wyshnaer Palast nach wie vor die Treue hielt. Er trat vom Fenster weg. Draußen erhoben sich schwarze Rauchsäulen, die bis zum Himmel reichten. Er nahm das Telefon vom Tisch und hielt es ans Ohr.
    »Wyshna?

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