Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Nasenflügel blähten sich.
»Bleib stehen, Hexe!«
Sie glitt aus der großen Welt heraus und herrschte innerhalb des eigenen kleinen Körpers, dieses Pseudokörpers, denn ihr eigentlicher Körper lag über das Antlitz der Erde verteilt und hatte sich noch nicht wieder zusammengesetzt.
»Bleib stehen, Hexe! Du kommst hier nicht durch!«
Die Nacht bevölkerten mit einem Mal ungebetene, falsche Sterne, gelb-grüne Sterne, die flackernden Blinklichter des Tschugeister-Dienstes. In den majestätischen Rhythmus der Prozession flocht sich ein anderer, ungleichmäßiger, der alles erstickende Rhythmus eines fremden Tanzes. Eines tödlichen Tanzes.
»Stehen bleiben!«
Sie zügelte ihre Schritte nicht. Und sie lachte auch nicht mehr, als ihr aus der Dunkelheit eine Reihe von Menschen in Kunstpelzen entgegentrat, mit einer Silberkette um den Hals und einer silbernen Dienstmarke auf der Brust, mit einem irren Rhythmus in den Augen.
Unsichtbare Fäden spannten sich um ihre Opfer. Wie pulsierende Schläuche, die ihnen das Leben nahmen. Wie schwarze Rüssel, die ihnen die Seele heraussaugten.
Die weißen Augen von Taschenlampen blitzten auf. Eine mit einem Gelbfilter. Da musste Ywha blinzeln.
»Du? Du?!«
Ywha verzog die Lippen. So hätte auch der Himmel in ihrem Rücken seine Zähne blecken können, lautlos, einsam, mit einem fahlen Blitz.
Die Kette schwankte und fiel auseinander. Den Tschugeistern genügte ein einziger Blick in ihr Gesicht.
»Himmel steh uns bei!«
»Zurück! Komm zurück, Priw!«
Er war der Einzige, der sich nicht rührte. Versteinert stand er da, aufgespießt von ihrem starren Blick.
»Weg da, Priw! Geh ihr aus dem Weg!«
Lauter und lauter rief die Trommel. Der Himmel toste, über die Schalldecke gespannt. Diejenige, die jetzt die Straße hinunterschritt, nahm bloß ihr Recht wahr. Ihr unteilbares und gutes Recht.
Ohne langsamer zu werden, stieg sie über den Mann hinweg, der am Boden lag.
Eine Sekunde später – eine dünne Membran später, durchrissen von ihrem Körper – vergaß sie ihn, um sich nie wieder an ihn zu erinnern. Und nie stellte sie sich die Frage, ob er überlebt hatte.
Schwieriger als alles andere war es, aus der Stadt herauszukommen. In völliger Dunkelheit schlug er sich durch den Ort, umrundete Hindernisse und fuhr an Ruinen vorbei, während ihn der allgegenwärtige Rauch husten ließ. Der Geist, der sich nur mit dem Geruch des Schlachthofs vergleichen ließ, entfernte sich ein ums andere Mal, nur um sich sogleich wieder zu nähern. Der Graf hatte die gerade, fast freie Autobahn bereits erreicht, als Klawdi Starsh, der niemals raste, reinen Gewissens das Gaspedal durchtrat.
Rechts vor ihm loderte ein Gehöft. Die Flamme eines gigantischen Lagerfeuers griff nach dem Himmel, die Funken legten sich auf die Windschutzscheibe, wurden vom Wind gegen das Glas gepresst und glommen ein letztes Mal auf, bevor sie sich in schwarze Rußklumpen verwandelten. Das Feuermonster stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, den Bart vom Wind zerzaust, und folgte mit dem Blick dem einzigen Punkt, der sich auf der langen Straße bewegte, dem Graf nämlich, der dem Ungewissen entgegenfuhr. Klawdi bleckte die Zähne.
Die Welt existierte nicht länger. Nichts von dem, was er normalerweise als seine Umwelt bezeichnete, gab es hier noch. Alles, was ihm einst so vertraut, was so unerschütterlich gewesen war, war aus den Fugen geraten; über der Menschheit hing ein Strudel, eine schwarze Windhose, die sich wie in Zeitlupe drehte, und, erfasst von ihrer gewaltigen Anziehungskraft, flogen Gesetze und Verpflichtungen, Normen und Bräuche, lebende Kühe, Gebäudeteile, entwurzelte Bäume und aus den Gräbern gerissene Särge durch die Luft.
Weiter und weiter trat Klawdi das Gaspedal durch. Sobald er im Fernlicht ein Hindernis entdeckte – ein umgekipptes Auto, von Flüchtlingen zurückgelassenen Hausrat oder einen auf die Straße geschmierten Körper –, biss er knirschend die Zähne zusammen und verschmolz mit seinem Wagen, diesem gehorsamen und treuen Gefährt, das sich widerspruchslos auf jedes Manöver einließ …
Als er irgendwann begriff, dass er mehr und mehr von der Richtung abkam, bog er zur Seite. Eine brennende Tanksäule beleuchtete seinen Weg, ein in Flammen stehendes Dorf, ein in der Ferne niederbrennendes Waldstück. Durch die Feuerherde lavierend, kam er rasch auf eine andere Straße, einen Feldweg, wendete und trat noch einmal das Pedal durch.
Das Auto schlotterte. Das
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