Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Wyshna?!«
»Wyshna«, bestätigte Klawdi mechanisch.
»Einen Moment …«
Eine Pause.
»Wyshna?«, fragte eine andere, eine kräftigere Stimme.
»Ja«, erwiderte Klawdi mit einem Anflug von Ärger.
»Starsh?!«
Erst da erkannte er die Stimme, die ihm ins Ohr schrie. Dabei hatte Foma aus Altyza nie die Angewohnheit gehabt zu jaulen. Manches Mal mochte er pathetisch geworden sein, die Stimme erhoben haben – natürlich nur, sofern die Gesetze der Rhetorik dieses verlangten.
»Oh! Guten Tag, Usurpator!«
»Starsh, wir reden hier über Satellit! Wir hatten Schwierigkeiten, überhaupt … eine Verbindung … Wie gut, dass Sie noch leben …«
»Für wen ist das gut?«, hakte Klawdi gallig nach. Doch die Ironie entging Foma.
»Starsh, der Herzog ist gestern gestorben … sein Auto … explodiert …«
»Das tut mir leid«, antwortete Klawdi mit einiger Verzögerung. »Das tut mir sehr leid, Foma. Wer ist sein Nachfolger?«
»Es gibt keinen Nachfolger. Es gibt überhaupt nichts mehr. Wir wollen Sie da rausholen. Noch haben wir Treibstoff für die Hubschrauber …«
»Die Armee? Wer befiehlt die Armee?«
»Das weiß ich nicht! Ich habe überhaupt keine Ahnung!«
Klawdi zog das flache schwarze Kästchen aus der Innentasche seines Jacketts. Seine Hand zitterte. Er besah es sich genau. In einer Ecke des Displays pulsierte unverändert das graue Quadrat.
Noch war die Zentrale einsatzbereit – und damit auch die Raketen.
»Starsh! Starsh! Der Große Exodus der Hexen … alles kommt in Bewegung, die Mutterhexe … wir haben … sie geortet … aus der Luft … an der Grenze zum Kreis Rydna, eine Datschensiedlung … Sie dürfen nicht länger in Wyshna bleiben, wir schicken Ihnen einen Hubschrauber …«
»Tun Sie das«, sagte Klawdi sachlich. »Hljur und die Jungs aus seiner Abteilung sind noch hier. Schicken Sie Ihren Hubschrauber …«
»Halten Sie durch, Starsh!«
Die letzten Worte glichen eher einem panischen Gejammer, als dass sie einen Versuch darstellten, ihn aufzumuntern.
Klawdi legte den Apparat auf das aufgeschlagene Buch. Auf das Tagebuch von Atryk Ol. »Nun, da die Mutterhexe so nahe ist, dass ich, ihren Geist witternd, keinen Schlaf finde.«
Erst jetzt verstand Klawdi, was genau der Alte meinte. Ihren Geist. Einen schweren Geist. Fast ein Geruch. Als junger Mann war er einmal in einer kleinen Stadt gewesen, die in der Nähe eines riesigen Schlachthofs lag. Sein ganzes Leben lang war der Ort von der Windrichtung abhängig. Die Bewohner hatten sich mehr oder weniger daran gewöhnt, Klawdi jedoch fröstelte, denn sobald der Wind von dort kam …
Die Mutterhexe ließ sich leicht an ihrem Geist erkennen. Genauso wie ein Mensch mit guter Nase ohne Probleme einen Schlachthof fand.
»Glauben Sie nicht, Klawdi, dass in die Seele … von. Hexen bei der Initiation ein anderes Wesen einquartiert wird. Dass sie sich verändern … aufhören, sie selbst zu sein … Das stimmt nicht!«
Er grinste. Ein unschönes Grinsen. Ein schiefes. Bist du das, Ywha?! Gehört dir dieser schwere Geist, der an einen Schlachthof erinnert?!
»Die Welt … die ist nicht so, wie Sie sie sehen. Wie wir … alle … sie sehen. Sie ist ganz anders. Aber das kann ich nicht erklären.«
Anders. Leer, voller Rauch, Tod und Schrecken. Was hatte Atryk Ol geschrieben? Die Menschen flohen in die Wälder, versteckten sich in Höhlen, verwilderten …
»Die Welt … die ist nicht so, wie Sie sie sehen.«
Und wie ist sie, verflucht noch mal?!
»Klagend kommen die Menschen zu mir und fragen mich: Warum eilt die große Kraft, welche die Welt erschaffen hat, uns nicht zu Hilfe? Ich antworte ihnen: Warum seid ihr selbst so hilflos? Warum sind einzig meine Herrinnen, die Hexen, frei und stark, mag auch die Kehrseite ihrer Freiheit das Böse sein?«
Klawdi schlug mit der Faust auf den Tisch, nicht sehr heftig, aber immerhin so, dass die weiß hervortretende Haut von den Fingerknochen platzte.
Ja, warum sind wir selbst so hilflos?!
»Wollten Sie das denn nicht?«
»Was?«
»Die Hexen verstehen?«
»Jetzt will ich es eben nicht mehr.«
Bist du das, Klawdi Starsh? Bist du das – der schon in der Schule als »Eisenhaken« bekannt war?
Ywha, du hast mich nicht mehr fragen können, warum ich der Inquisition beigetreten bin. Und ich habe dir nicht mehr erklären können, dass es die Einrichtung war, zu der ich auf gar keinen Fall gehen wollte. In dieser Zeit meines Lebens hatte ich mir jedoch selbst die Strafe auferlegt, nur das zu
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