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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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gemeißelt hervortreten ließ, ebenso wie die gekrümmten, an einen gespannten Bogen erinnernden Lippen und die leuchtenden Scheiben der Augen, die kein einziges Mal blinzelten.
    »Ja, Djunotschka«, sagte er laut. »Ja. So habe ich es gewollt.«
    In diesem Augenblick züngelte das Feuer hoch.
     
    Ein dunkler, rot funkelnder Kern, das Zentrum, umhüllt von einer schweren Robe. Der Flug, dieser wahnsinnige Reigen, all die kleinen Strudel ihrer Töchter, die sich in der schwarzen Leere ausbreiteten, der Flug und der Fall, die vom Strudel erfassten Späne – all das würde jetzt, genau in diesem Augenblick, mit der Mutter verschmelzen.
    Sie hob den Kopf.
    Der Himmelskreis drehte sich schneller und schneller. Er versuchte, den schwarzen Wirbel einzuholen, verschmierte dabei aber nur die klaren Lichter der Sterne, die ihrerseits eine weiße Spur hinterließen, als wollten sie einander über den Himmel jagen und beim Schwanz packen, diese Tausenden von grellen kleinen Kometen.
    Der Strudel wurde tiefer. Immer tiefer und tiefer. Der Rand, markiert von den flatternden Mähnen der inzwischen toten Pferde, wölbte sich nach oben und rollte sich ein, als wolle er den unverschämt tief stehenden Mond in einen Sack stopfen.
    Sie lachte, erschreckte mit ihrem Gelächter den Rand des Strudels, der erschlaffte und sich nach unten kräuselte, während sie auf dem Gipfel eines Berges saß, eines kegelförmigen Vulkans, und tief unten am Horizont die Konturen verlassener und zerstörter Städte erkannte.
    Sie riss die Hände hoch. Der Strudel bildete sich neu, gewann die alte Größe zurück, und auf den Resten der Betonmauer, die unsagbar alt wirkten, erblickte sie einen Mann, der an sein eigenes Auto gekreuzigt war.
    Hunderte von kleinen Lichtern. Neue Sterne gesellten sich zu dem monsterhaften Karussell.
    »Brenne! Brenne! Brenne!«
    Ihr Thron bebte.
    Nein, ihr Thron blieb unerschütterlich. Ihr Thron stellte das einzige unbewegliche Etwas in dieser sich wahnsinnig drehenden Welt dar, in diesem Strudel von Himmel und Sternen, Erde, Wasser und Feuer. Seit vielen Jahrhunderten schon saß sie auf diesem Stuhl.
    Denn das war sie, eine alte Statue. Eine Sphinx, an der die Zeit genagt hatte. Sie rührte sich nicht, sie war ein Turm, der seit dem Anbeginn der Zeiten stand und in dessen Innerem sich Treppen hinaufschlängelten und Gänge kreuzten, sie war das monströse Gebäude einer unbekannten Zivilisation. Sie , die mit den Händen nach den Sternen greifen konnte, sie, die zum hundertsten Mal lebte, sie …
    »Segne deine Flamme, Mutter!«
    Ihr Blick hob sich, Segen zu spenden.
    Der Mann, gekreuzigt an Beton und Stahl, hob ebenfalls den Blick – um den Segen des eigenen Todes zu empfangen.
    Mit ihm starb all das, was er verkörpert hatte, jene Welt aus stramm verschnürten Fäden. Eine Welt der Unfreiheit, denn jede Zuneigung …
    »Segne deine Flamme, Mutter!«
    Woher kam nur dieser fremde Rhythmus? Woher kam dieser ungeschickte, irritierende Rhythmus, der den ewigen Tanz störte?
    Sie erzitterte.
    Dort! Aus den schiefen Ruinen einstiger Macht und Kraft streckte sich ihr eine Hand entgegen.
    Obwohl seine Hände gefesselt waren, durch das Drahtseil gekrümmt, hilflos und reglos. Und dennoch sah sie es genau – wenn auch nicht mit den Augen.
    Eine zugleich fordernde und schlaffe Hand, eine fest gespannte Hand, bei der jeder Muskel die Berührung zustande bringen wollte.
    Der Strudel kippte zur Seite.
    Für einen Augenblick bloß. So neigt sich ein Glas, aus dem ein roter Tropfen Wein schwappt, ein einziger Tropfen nur – der das weiße Kleid der Braut dennoch völlig verdirbt, denn eine Rose, am falschen Fleck erblüht, stört, bringt das Gleichgewicht ins Schwanken. Der Wein im Glas, er strudelt, brodelt, er sucht sich die Freiheit …
    Die fremde Hand streckte sich ihr weiter entgegen, nun fast gebieterisch. Der fremde Rhythmus durchwob den Rhythmus des triumphierenden Tanzes, bohrte sich durch ihn hindurch, wie Gras durch Asphalt wächst, wie ein fahles grünes Blättchen, das eine Granitplatte spaltet. Warum jagte ihr dieser im Grunde harmlose Riss eine solche Angst ein?!
    Die verschreckten Augen ihrer Kinder. Sie musste sie beruhigen. Sie würde ihnen eine Freude bereiten, ihnen eine weitere Runde in ihrem Reigen erlauben.
    Und abermals wirbelte der Reigen in die Höhe. Er schlug auf die ausgestreckte Hand ein, wollte sie abhacken wie einen trockenen, nutzlosen Zweig.
    Der fremde Rhythmus riss kurz ab.
    Die Sterne zerflossen zu

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