Das Jahrhundert der Hexen: Roman
nicht gleich den verängstigten Aufschrei ihrer Töchter.
Neben dem brennenden Auto lag ein Mann auf der Erde, der über Macht gebot. Seine Macht erinnerte an einen weißen Blitz, seine Macht roch scharf nach verbranntem Fleisch, irritierte und provozierte. Sie sah, wie ihre Kinder, die in den Kreis seiner Macht gerieten, vergeblich versuchten, ihm Widerstand zu leisten.
Sie schloss die Augen. Ein Gefühl, als bohre sich eine stumpfe Nadel in eine geballte Faust. Ein Gefühl, das stärker und stärker wurde.
Sie lachte schallend. Der weiße Kreis der Macht, die der aufdringliche Neuankömmling ausgoss, loderte heller auf – und erstarb fast im Anschluss. Sie hatte einfach die Nadel herausgezogen. Hatte die fremde Macht abgeschüttelt. Ohne Schwierigkeiten. Ihre Kinder, ihre Finger, ihre gehorsamen Muskeln spannten sich kaum merklich an, und ihre Kraft zeigte sich in kleinen, dunkelroten Blitzen, ihre Kraft zerfetzte den weißen Kreis, ebenso wie den weißen Panzer, mit dem sich der Mann zu schützen versuchte, ja, ihn selbst hätte die Kraft beinahe auch in Stücke gerissen, war sie doch willens, alles zu zerhacken und zu zerlegen, alles zu einem Baustein des Chaos zu machen, alles als Staubkorn in die spiralförmige Rotation einzuspeisen.
Doch noch immer leistete dieser Mann Widerstand. Er schlug mit einer schmerzlichen weißen Explosion auf ihre Finger ein – und verschwand. Um erneut zuzuschlagen.
Sie wurde böse. Ihre Finger schlossen sich zusammen, als wollten sie seinen Willen zerstoßen wie einen Knochen unter einem Mahlstein. Sein Schmerz funkelte grün, bildete eine leuchtende Wolke. Wieder entspannte sie die Finger und warf den leblosen Körper fort, damit ihre Kinder, ihre Finger, nach Belieben mit ihm verfahren und Vergeltung üben konnten.
Daraufhin kehrte sie in ihr kleines Selbst zurück. Sie öffnete die Augen.
Ihre Kinder freuten sich, und ihre Freude band eine weiche, kühle Schleife um Ywha.
Eine Prozession. Eine feierliche Prozession im Kreis, in einer Spirale. Ihre Kinder trugen seinen Körper auf ausgestreckten Armen, seinen gehorsamen, leblosen, schweren und steifen Körper. Sie folgten ihm, ein endloser Zug, eine lange Eskorte, eine so lange Eskorte, dass diejenigen, die den Körper trugen, den Klagefrauen am Ende des Prozessionszuges beinahe in die Hacken traten. Die Klagefrauen lachten lauthals, und der Strudel blähte ihre Kleidung auf zu einer Spirale …
Sie trugen ihn auf ausgestreckten Armen. Sein Kinn ragte gen Himmel, er sah nach vorn, und sein seltsam verdrehtes Gesicht verkam zu einem lächerlichen Portrait.
»Ywha …«
Nein, seine Lippen hatten sich nicht bewegt. Seine Lippen blieben krampfhaft aufeinandergepresst. Dennoch hatte sie es deutlich gehört, klar, eindeutig und ohne Zweifel.
»Ywha.«
Die Prozession endete dort, wo sie auch begonnen hatte – an dem brennenden Auto. Genauer: an dem ausgebrannten. Der Wirbel hatte sein Bestes getan, die Flamme hatte alles verschlungen, was brennen konnte, und nur ein schwarzes Gerippe zurückgelassen, ein verkohltes Skelett.
Ihre Kinder frohlockten. Lange genug hatten sie nach einem Sinn gesucht. Es war ihr gutes Recht, die Verkörperung all ihrer Leiden abzuurteilen. Sie richteten dabei nicht über den Menschen, der sowohl seine Macht als auch seine Kraft verloren hatte, sondern bestraften das Monster, das sie über Jahrhunderte hinweg gefressen hatte; es war ihr gutes Recht, die Inquisition zu verurteilen.
Bedächtig zogen ihre Finger das Drahtseil um seine Handgelenke zusammen. Ihre Kinder lachten, während sie den Großinquisitor an sein verbranntes Auto fesselten. Sollten sie einander ruhig ähnlich werden, der Maschinenmensch und das Maschinenauto.
»Reisig! Bringt Reisig!«
Es waren viele, Hunderte von Händen. Wenn jede ein Hölzchen warf, würde sich ein riesiges Feuer erheben.
Sie saß auf ihrem Stuhl, mit durchgedrücktem Rücken. Über ihr drehte sich der Wirbel, die schwarze Achse eines Hurrikans.
Faules Wasser, das vor vierhundert Jahren die Stadt Wyshna überschwemmt hatte. Einige Tausend Tote. Eine Epidemie, vergiftete Brunnen, menschliche Körper, eingenäht in Kuhmägen.
Ein fünfjähriger Junge, der im Hochsommer in einen verrosteten Nagel getreten war. Ein Teenager, der sich bei einem Fußballturnier in der Schule das Bein gebrochen hatte. Die Spitze eines mit einem Zauber belegten Messers, das dem jungen Inquisitor aus der Provinz tief in die Seite eindrang. Der ganze Schmerz, den er in
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