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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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seinem Leben gespürt hatte, verkam zur Klöppelarbeit, zum Flor, zum Schatten … angesichts des Schmerzes, den er jetzt empfand. Nicht einmal das Bewusstsein verlor er, nein, alle seine Gedanken waren klar, alle Bilder deutlich und dreidimensional, konturiert, damit sie besser zu erkennen waren.
    »Infolge eines direkten Kontakts mit der vermeintlichen Mutterhexe, der wohl zu deren Tod führte, war der Inquisitor Atryk Ol völlig entkräftet und teilweise erblindet, worauf die in der Stadt versammelten unzähligen Hexen schrankenlose Macht über ihn erlangten. Der Stich eines unbekannten Künstlers, offenbar ein Augenzeuge der Ereignisse, hält den Moment von Atryk Ols Tod fest. Die Hexen hatten ihn geteert, in Stroh gewälzt und angezündet.«
    Wie genau das Gedächtnis funktioniert. Er erinnerte sich an alles, bis zu dem Haar, das an ihrer Schläfe klebte, bis zum Geruch des Bücherstaubs, bis zu der bunten Feder eines unbekannten Vogels, wie auch immer diese zwischen die Seiten geraten sein mochte.
    »Infolge eines direkten Kontakts …« Was sollte das heißen? Direkt? Er konnte sich ja nicht einmal nach ihr ausstrecken! »Der Inquisitor Klawdi Starsh büßte seine Kräfte ein … aber das Sehvermögen verlor er keinesfalls …« Denn sehen sollte er, welches Schicksal die Hexen für ihn bereithielten. Nicht schlicht über die Erde sollte er geschleift werden, sondern, mit einem Drahtseil an sein Auto gefesselt, den Berg von Reisig erblicken, der zu Füßen der Mauerreste wuchs, zu Füßen der Betonkonstruktion … Schon ließen sie das Seil von oben herab, knoteten es an das Wagendach. Viel zu stark waren sie, wie sie da feierten und triumphierten, wie sie da auftrumpften. Was für ein Fest, was für ein Tanz, was für ein Reigen – der den Tod des Inquisitors im Feuer bedeutete. »Der Stich eines unbekannten Künstlers hält den Moment von Klawdi Starshs Tod fest, den die Hexen an die Reste seines Autos schnürten, das sie an einer Betonmauer hochzogen, um darunter ein Feuer zu entfachen und ihn zu grillen – wie ein Ferkel.«
    An alles würde er sich erinnern. Alles würde er spüren. Nichts würde er vergessen – bis zur letzten Sekunde nicht.
    »Aber sie haben sich geirrt, Ywha. Nach der Initiation … also, um es kurz zu machen, eine aktive Hexe hat überhaupt nicht mehr das Bedürfnis, jemanden zu lieben. Die Liebe macht sie, hm, zu abhängig. Nein, das trifft es auch nicht. Die Liebe ist ein Gefühl, das einen Menschen abhängig macht. Und Hexen ertragen genau dies nicht, das darfst du nie vergessen.«
    Das Drahtseil zerschnitt ihm allmählich die Handgelenke.
    Läutete da eine Glocke? Oder bildete er sich das nur ein? Ein ferner, melodischer und irgendwie mitleidiger Glockenschlag. Dann noch einer, stärker, schneidender, verzweifelter, eine Art Schrei. Was kann ich schon tun?, schrie die Glocke. Wie soll ich dir helfen, Klaw?
    Tief in seiner Seele jammerte und weinte die längst verstorbene Djunka vor Angst. Schon wieder hatte er sie verraten, denn mit ihm würde auch die Erinnerung an sie sterben.
    Scheußlich! Warum war er immer noch bei Bewusstsein?!
    Aber das hast du doch selbst so gewollt, Klaw, flüsterte die Stimme der sterbenden Djunka in seinen Ohren. Deshalb bist du doch hergekommen. Es wäre doch dumm … bewusstlos zu sterben, alles vergessend … ohne Erinnerung …
    Ich habe mich geirrt, Djunka, wollte er widersprechen. Ich habe mir selbst etwas vorgemacht!
    Willst du etwa immer noch, dass sie lebt?, fragte Djunka kaum hörbar. Willst du das wirklich immer noch, Klaw?
    Gequält holte er Luft, entspannte sich und versuchte, die verkrampften Muskeln in eine weniger schmerzhafte Position zu bringen.
    Ein Hexensabbat! Sollte irgendjemand auf dieser Welt in dieser Nacht Kinder zeugen, kämen diese ausnahmslos als Hexen zur Welt. Und alle würden zum Teil dieses Trichters, dieser Windhose werden.
    Die Hexen standen um ihn herum, unter ihm, denn er hing über ihren Köpfen. Sie hatten einen Kreis gebildet. Als ob sie sich, bevor sie das Reisig entzündeten, noch einmal an dem Anblick von ihrer Hände Arbeit weiden wollten. Hunderte von Hexen, brennende Augen, ein ganzes Feld funkelnder Kohlen. Die Stille, die absolute Stille vor einem Euphorieausbruch, vor dem Tanz, vor dem Höhepunkt des Hexensabbats.
    Es gab noch einen Menschen, der über der Menge stand. Eine reglose weibliche Figur, die auf einem hohen Stuhl saß. Und es gab den Mond, der die Feuerkugel elektrisch aufgeladener Haare wie

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