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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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doch nichts anderes als: Sei in deinem Egoismus konsequent.
    Der Abend dämmerte. Die verwelkenden Blumen verströmten einen starken, satten und schweren Geruch.
    »Djunka«, sagte er und ließ sich auf die Knie fallen. »Djunka, ich wollte dir sagen, dass wir nach den Prüfungen heiraten … Schick mich nicht weg. Kann ich hier einfach ein bisschen sitzen?«
    Der schummrige Abendhimmel. Das beruhigende Zirpen der Zikaden.
    »Djunka …«
    Er fand keine Worte.
    Vielleicht wollte er ihr sagen, dass er sich unverzeihlicherweise an ihre Liebe gewöhnt hatte. Dass er sie zu oft großspurig weggescheucht hatte: Komm morgen wieder. Dass sie für ihn halb ein Gegenstand und halb ein Kind gewesen war. Dass er nicht wusste, wie er sich bestrafen sollte. Und ob ihm die grausamste Strafe überhaupt helfen würde …
    Schließlich sprach er das aus, was er für nötig hielt. Was er als das einzig Richtige und Angemessene erachtete. »Djun, ich schwöre, dass ich niemals irgendjemanden außer dir lieben werde.«
    Fuhr da der Wind durch die Krone einer der dunklen Friedhofstannen? Oder erzürnte sich Djunka, die ihn von dort beobachtete, die nassen Haare schüttelte und verärgert die spitz zulaufende Nase rümpfte?
    »Jetzt habe ich es gesagt«, flüsterte er tonlos. »Verzeih mir.«
    Hinter ihm knackte das Geäst. Er erstarrte, zählte langsam bis fünf und drehte sich um.
    An alle, die bei der Beerdigung gewesen waren, erinnerte er sich zwar nicht, dennoch meinte er aus irgendeinem Grund sicher zu wissen, dass dieser Alte nicht daran teilgenommen hatte. Er trug einen zerknitterten dunklen Anzug und zerschlissene Stiefel. Der Friedhofswärter? Obdachlose, die leere Flaschen einsammelten und verkauften, hatten ganz bestimmt nicht ein so entschlossenes Gesicht. Und keinen so klaren Blick.
    »Ich bin ein Lum«, sagte der Alte, als antworte er auf die unausgesprochene Frage. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
    Ein Lum. Ein Tröster auf dem Friedhof. Es hieß, dieses Handwerk gehe auf einen heute in Vergessenheit geratenen Glauben zurück. Auf jene Geistlichen, die einst für die am schmerzlichsten leidenden Seelen, die durch den Verlust am stärksten geschwächt waren, Worte gefunden hatten. Djunkas Eltern hatten nicht zu den Diensten eines Lums Zuflucht genommen, stolz wollten sie die Bürde des eigenen Leids allein tragen. Ob der Alte glaubte, er würde bei Klaw, der sich von der Prozession abgesondert hatte, mehr Glück haben?
    »Nein.« Klaw drehte sich um. »Danke, aber … Ich glaube nicht daran. Ich brauche das nicht. Ich schaffe das selbst.«
    »Woran glaubst du nicht?«, fragte der Alte verwundert.
    »Ich möchte allein sein«, flüsterte Klaw. »Mit … ihr. Bitte, gehen Sie weg.«
    »Du tust Unrecht«, seufzte der Alte. »Du tust Unrecht … aber ich gehe ja schon. Nur …«
    Verärgert hob Klaw den Kopf.
    »Nur …« Der Alte kaute auf den Lippen herum, als wolle er die Worte erst schmecken – und danach die richtigen auswählen. »… tust du etwas, das man nicht tun darf. Du gönnst ihr keine Ruhe, rufst sie herbei. Du hältst sie fest. Diejenigen, die jener Welt angehören, darf man jedoch auf keinen Fall in diese ziehen. Die Njawken …«
    Klaw fuhr zusammen. »Gehen Sie.«
    »Leb wohl …«
    Die schwarzen Tannenzweige erzitterten, als sie den lautlos verschwindenden Lum durchließen. Klawdi Starsh, ein sechzehn Jahre alter Junge, der sich für einen Mann hielt, blieb allein zurück.
    Mit Djunka.
     
    Die Nacht verbrachte sie auf dem Bahnhof.
    Das schmerzhafte Gefühl, schutzlos zu sein, trieb sie von Stockwerk zu Stockwerk, von Saal zu Saal; jedes Mal, wenn sie für ein paar Minuten auf einem der tiefen Plastikstühle einnickte, schreckte sie wie im Fieber aus dem Schlaf hoch und konnte sich lange nicht besinnen, wer sie war und wo sie sich eigentlich befand.
    Schließlich, der drückenden Hitze und des unnatürlichen Lichts der weißen Deckenlampen müde, trat Ywha auf einen der vom Sprühregen feuchten Bahnsteige hinaus. Winzige Wasserpartikel flirrten wie Mücken um die unerträglich grellen Laternen. Die unbequemen Nachtzüge kamen an oder fuhren ab, eine schwarze Silhouette lief rasch die riesigen, Furcht einflößenden Räder ab und schlug mit einem Stab geräuschvoll gegen das Eisen. Die Zeiger der runden Bahnhofsuhr klebten reglos am Zifferblatt, die Nacht zog sich ewig hin. Ywha verzweifelte.
    Der Polizist, der neben der Kasse Posten stand, schielte anfangs gleichgültig, später aber neugierig zu ihr

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