Das Jahrhundert der Hexen: Roman
raus … in welche Kategorie eine Hexe fällt … ob sie zu den Zweiundsechzig oder zu den … Achtunddreißig Prozent gehört?«
»Ljura-a!« Der Junge ließ nicht locker. »Lju-ura! Du sollst rauskommen!«
Der Inquisitor erhob sich, doch da es in der winzigen Küche keine Fluchtmöglichkeit gab, setzte er sich wieder, wenn auch auf das breite Fensterbrett. Die noch nicht ausgetrunkene Tasse Kaffee stellte er neben sich. »Das hat mich Nasar auch gefragt. Fast mit denselben Worten: Im Grunde habe ich ihm das alles schon damals erzählt … äh … als du weggelaufen bist. Aber offensichtlich war er da zu erschüttert, als dass er etwas davon behalten hätte.«
»Ljura-a!«
Der Inquisitor lehnte sich zum Fenster hinaus. »Wenn du nicht gleich rauskommst, kriegst du Ärger, Ljura!«, drohte er mit der Stimme eines Bühnenschurken.
Der fliehende Fahrradfahrer schepperte über die Steine. Offenbar bekam es der junge Herr Verehrer mit der Angst zu tun.
»Das«, meinte der Inquisitor grinsend, »würde ich auch gern wissen, Ywha. Damit ich die Unschuldigen nicht ins Gefängnis stecke und den bösen Hexen nicht die Freiheit schenke. Aber es ist praktisch unmöglich, das zu bestimmen. Es hängt von verschiedenen Umständen ab, von den persönlichen Anlagen, die sich meist nicht vorher erkennen lassen. Ein ruhiges Familienleben mit einem geliebten Mann fördert das Gute in einer Hexe und verhindert meist, dass sie gegen das Gesetz verstößt. Es stellt jedoch keine Garantie dar. Verstehst du das?«
»Und das haben Sie auch Nasar gesagt«, flüsterte Ywha.
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich versuche, ehrlich zu sein?«, fragte der Inquisitor. »Ihm … und auch dir gegenüber?«
»Vielen Dank.«
»Keine Ursache, Ywha … Was siehst du mich so an?«
»Sie …«, Ywha senkte den Blick, »… haben mein Leben zerstört.«
»Nun übertreib mal nicht.«
»Es wäre nur gerecht, wenn Sie mir jetzt auch … helfen würden.«
»Ich helfe dir, so gut ich kann. Worauf willst du hinaus?«
»Ich will keine Hexe sein.« Ywha verflocht unterm Tisch die Finger, bis es schmerzte.
Eine Pause. Vom Hof stieg fröhliches Getschilpe herauf. Vor dem Nebenhaus unterhielt sich jemand laut. Vermutlich war Ljura doch noch aufgetaucht.
»Wir werden nicht gefragt, was wir sein wollen, Ywha. Ich bin als kleiner Klawdi auf die Welt gekommen, du als die kleine Ywha …«
»Nein. Ich habe gehö … ich weiß, dass man einer Hexe … ihre Hexenschaft entziehen kann. Damit sie wie alle anderen ist.«
Der Inquisitor verzog das Gesicht. Angewidert blickte er in seine Tasse, als fürchte er, dort eine Kakerlake zu entdecken. »Ich kann mir sogar vorstellen, von wem du das gehört hast. Ich wollte sagen, woher du das weißt. Es ist ganz bemerkenswert, wen man heutzutage alles in ein Mikrofon sprechen lässt.«
»Wollen Sie mir etwa weismachen, diese Experimente … hätte es nie gegeben? Man hätte dergleichen niemals versucht? Sich nie damit beschäftigt? Können Sie mir das sagen und mir dabei in die Augen sehen?«
»Lass uns dieses Gespräch beenden«, verlangte der Inquisitor, der die Tasse nun verärgert aufs Fensterbrett knallte. »Du solltest nicht alles glauben, was die Leute im Fernsehen von sich geben.«
An Ywhas immer noch verschränkten Fingern traten die Knöchel weiß hervor. »Und wo bleibt Ihre berühmte … Ehrlichkeit jetzt?«
Ihre Blicke trafen sich. Ywha spürte, wie jäh Übelkeit in ihr aufstieg.
Irgendwann war sich Ywha sicher, der Inquisitor fahre sie direkt ins Gefängnis. Zu dem üblichen Unwohlsein, das seine Anwesenheit in ihr auslöste, gesellte sich nun auch noch das schmerzliche Gefühl hinzu, zum Tode verdammt zu sein, ein Gefühl, das Ywha, die im Fond Platz genommen hatte, natürlich während der ganzen, nicht sehr langen, aber auch nicht gerade kurzen Fahrt zu schaffen machte.
An einer Seite der Windschutzscheibe klebte eine Karte mit einer lustigen, beschwänzten Hexe, die auf einem Besen ritt. Das Bild schien Ywha ein weiteres Beispiel für einen seltsamen, verdrehten Sinn für Humor zu sein. Eine verrostete Feder in ihrem Innern presste sich immer enger zusammen, bis sie aufs Äußerste gespannt war.
Der Inquisitor fuhr betont langsam, aufmerksam und korrekt, fast wie ein Fahrschüler, der zum zweiten Mal hinterm Steuer sitzt. Schon bald ließen sie das Zentrum, in dem Ywha sich eher schlecht als recht auskannte, hinter sich und erreichten die Vorortbezirke, die alle gleich, staubig und
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