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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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Herr … Hauptsache, es geht ihr wieder besser …«
    Das Geräusch des Motors entfernte sich. Das Gras unter ihrem Gesicht war warm und rot. Oder bildete sie sich auch das nur ein?
    Ich bin eine Hexe. Hexen müssen böse sein.
     
    Klawdi sah dem Motorrad nach, bis die grüne, vom Wind zu einer Blase geblähte Jacke hinter einer Kurve verschwand.
    Dann wartete er, bis der Regen aufhörte. Idiotischerweise zitterten seine Hände. Gleich würde ihm die Zigarette entgleiten …
    Er hegte eine zu hohe Meinung von sich. Hielt sich für einen Mann mit Nerven wie Drahtseilen und einer hundertprozentig zuverlässigen Abwehr. Doch es brauchte bloß das erstbeste Mädchen mit dem Finger auf ihn zu zeigen, und schon stand Klawdi Starsh am Straßenrand, neben seinem leicht lädierten Auto, zitterte und rauchte …
    Nur dass es sich hier nicht um das »erstbeste Mädchen« handelte. Und ihren Beschuldigungen nichts Zufälliges anhaftete. Leichthin und ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, hatte sie in seiner Seele die schmerzlichste und schwerste Last ausgemacht – um sie in eine Waffe zu verwandeln. Von unglaublicher Stärke!
    Nein, sie hatte nicht gewusst, was sie getan hatte. Sie hatte ihn bloß verletzen wollen, was ihr auch vorzüglich gelungen war.
    Ihm waren schon reife Hexen untergekommen, initiierte und erfahrene, die in voller Kampfmontur das Gleiche versucht hatten. Damals hatte er nur gelacht und ihre Waffe gegen sie selbst gewandt. Aber jetzt …
    Er konnte sich nun nicht länger beherrschen und spuckte aus. Seine Spucke schlug einem gemeinen Löwenzahn die Hälfte seiner weißen Federn ab; verdrossen spuckte er noch einmal, diesmal jedoch daneben, sodass der Löwenzahn mit einer Halbglatze davonkam.
    Sicher, sie hatte seinen Schlag mit einer seltenen Tapferkeit eingesteckt. Hemmungslos hatte er auf sie eingedroschen, jede Kontrolle hatte er über sich verloren. Es war sehr lange her, seit er das letzte Mal jemandem mit einer derartigen Gewalt eins übergezogen hatte.
    Plötzlich wollte er ins Auto steigen, zu dem gelben Haus fahren und die Wache rufen. Stattdessen ging er jedoch zu Ywha, die am Boden lag, und setzte sich neben sie.
    Sie hatte wirklich eine gute Abwehr. Und eine unverwüstliche Konstitution. Das Blut zählte nicht. Das war bloß Nasenbluten und ließ ohnehin schon nach, trocknete an den roten Haaren ein.
    Mit einem Mal erinnerte er sich, wie er in seiner Kindheit Stunde um Stunde vor einem Stahlgitter im Zoo gestanden hatte, vor dem Käfig für die Füchse. Der einzige Fuchs, der je in Unfreiheit geboren worden war, ein schmutziges, vergessenes Tier, das man mit allem Möglichen bewarf und neckte. Dieser Fuchs wartete auf ihn, versteckt hinter seinem Bretterhäuschen, und kroch, sobald Klawdi auftauchte, auf dem Bauch durch den ganzen Käfig zu ihm hin; jedes Mal griff die durch das Gitter gezwängte Hand einige Zentimeter vor der spitzen, leidenden Schnauze in die Luft. Wohin war dieses Füchslein verschwunden? Was hatte Klawdi von den kummervollen Zoobesuchen abgebracht?
    Schluss jetzt mit der Gefühlsduselei. Er, der Großinquisitor, hätte eben beinahe eine junge, unregistrierte Hexe zu Tode geprügelt.
     
    Das Wasser aus dem Kanister war überraschend kalt. Es brachte die Zähne zum Bersten, und das tat gut.
    Ywha fing einen prasselnden, großzügigen Strahl mit der Hand auf. Die Spritzer nässten ihren Pullover, doch das war ihr egal, der Pullover war so oder so hinüber. Das ganze Blut … Was war das nur für ein erbärmlicher Sommer, wo sie einen Pullover brauchte? Letztes Jahr hatte um diese Zeit die Sonne geknallt …
    Die einfachen, banalen Gedanken stellten eine Abwehrreaktion dar. Ywha widersetzte sich dem nicht, sie dachte an das Gras und an den Löwenzahn. An das Wetter, den Regen, der bald einsetzen würde, an die dämliche Stickerei in der einen Ecke ihres Taschentuchs, das sie vor zwei Monaten in einem Kurzwarenladen gekauft hatte.
    »Was tut dir weh?«
    Alles. Aber irgendwie komisch, stumpf. Und sobald sie den Kopf drehte, wurde ihr schwarz vor Augen.
    »Warum kümmern Sie sich eigentlich um mich? Stecken Sie mich doch ins Gefängnis, dann sind Sie mich los!«
    »Leg dich auf den Rücken. Mit dem Taschentuch auf dem Gesicht.«
    Sie suchte sich eine Stelle, an der kein Löwenzahn wuchs. Sie wollte die weißen Sporen nicht in Aufruhr versetzen. Waren sie erst einmal ab, bekam man sie nicht wieder dran.
    »Hat es sehr wehgetan?«
    Unerträglich, dachte sie. »Halb so

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