Das Jahrhundert der Hexen: Roman
fremd wirkten. Als sie an einem Schild vorbeikamen, das das Ende des Stadtgebiets anzeigte, bog der Inquisitor nach rechts ab. Das teure, leistungsstarke Auto zuckelte herrschaftlich über einen löchrigen Feldweg.
Hinter einem jungen Tannenwäldchen versteckte sich ein gelbes Haus, ein niedriges, einstöckiges Gebäude, das gleichermaßen an ein Gefängnis und an eine Cowboyranch erinnerte. Ywha umklammerte mit den Armen ihre Schultern.
»Es schmeckt mir zwar nicht, aber ich werde dir jetzt etwas zeigen«, teilte ihr der Inquisitor mit, ohne sich umzudrehen. »Genau das, was in deinem Fall nötig ist.«
Ywha starrte auf seinen Hinterkopf. Ein akkurater, penibler Haarschnitt. Nichts wollte sie jetzt lieber, als mit einem schweren Hammer auf diesen Hinterkopf einschlagen.
Dieser arrogante Lenker von Schicksalen. »Zweiundsechzig Prozent … achtunddreißig Prozent … genau das, was in deinem Fall nötig ist.« Woher nahm er nur das Recht, sich ihr gegenüber so zu verhalten, als sei sie ein Versuchskaninchen? Nein, eine Mikrobe. Als sei sie ein Krankheitserreger – und er der gute Onkel Doktor.
Die Wut packte sie plötzlich und grundlos. Die pralle Blase, jene Behausung all ihrer Verluste, Erniedrigungen und Ängste, platzte einfach.
Sie knirschte mit den Zähnen. Vor ihren Augen hing ein roter Schleier. Konnte in einem einzigen Menschen wirklich so viel Hass stecken? Wollte sie das alles tatsächlich stumm und widerstandslos ertragen, die Zähne immer aufeinandergepresst?
Auf einmal stürzte sie sich auf die Haare des Mannes, der am Steuer saß.
Und sie hätte sich in ihnen verkrallt – wenn er nicht im letzten Augenblick noch seitlich ausgewichen wäre, ihre Hand abgefangen und sie an sich gerissen hätte. Das Auto schlingerte. Die Hand des Inquisitors packte ihr Genick und presste ihr Gesicht an seine harte Schulter.
»Du Henker!«
Sie riss sich los. Das Auto geriet erneut ins Schlingern. Ywha sah sich schon nach vorn sausen, gegen das Steuer prallen und mit den Füßen die Windschutzscheibe einschlagen.
»Henker! Dreckskerl! Schwein! Arschloch! Lass mich …«
Der raue Bezug des Sitzes verschloss ihr den Mund. Ihre Hände, die ihn kratzen und an den Haaren ziehen wollten, erschlafften im Schmerz. Es fühlte sich an, als drehe ihr jemand den Kopf von den Schultern – so wie man eine Flasche entkorkte.
»Henker!«
Das Auto fuhr jetzt langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Ywha wollte heraushechten. Die Strähnen ihres roten Haars verhakten sich jedoch so an einem Knopf von Klawdis Kragen, dass sie zurückgerissen wurde und sich beinah selbst skalpierte. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Ihr alle«, zischte sie ungeachtet der Schmerzen, »ihr alle seid … Ich hasse euch. Wie Wanzen könnte ich euch zertreten … ihr Henker …«
Für kurze Zeit sah sie nichts mehr. Vielleicht lag das am Tränenschleier, vielleicht wurde ihr auch einfach schwarz vor Augen. Die Tür, gegen die sie geknallt war, als sie aus dem Auto springen wollte, gab plötzlich nach. Ywha fiel an den Straßenrand.
Der Nebel vor ihren Augen lichtete sich. Aus einem einzigen Grund: damit sie den Stein bemerkte, der in der Nähe lag. Schmerzverkrümmt hob sie ihn auf und schleuderte ihn gegen den teuren Wagen. Im Seitenfenster bildeten sich Hunderte von Rissen, es büßte seine gläserne Klarheit ein. Schlagartig erfasste Ywha hämische Freude. Da sie keinen weiteren Stein fand, klaubte sie eine Handvoll Kiesel auf.
»Habe ich … dir … etwas getan? Bin ich dir in die Quere gekommen? Bin ich eine Verbrecherin? Eine Diebin? Nie habe ich jemandem … Und du willst mir vorschreiben, wie ich zu leben habe? Willst du es Nasar auch … Bin ich vielleicht irgendjemandem was schuldig?!«
Auf dem schmalen Weg fuhr kein einziges Auto, nur über die weiter entfernte Chaussee rumpelte ein grauer Laster. In der Ferne tollte ein herrenloser Hund übers Feld. Der Inquisitor stand da, lehnte sich gegen die Motorhaube und musterte die auf dem Boden hockende Ywha von oben bis unten.
»Ich habe keine Angst vor dir!« Unerschrocken blickte sie ihm in die zu Schlitzen verengten Augen. »Ich habe vor niemandem Angst. Hast du verstanden, du Arsch?«
Der Inquisitor schwieg.
Mühevoll rappelte sie sich hoch. Vor ihm wollte sie nicht auf den Knien liegen.
»Du … feiger Hund! Von nichts hast du … Wir hätten einen Sohn bekommen! Nasar und ich! Jetzt ist alles aus, aus und vorbei … Und? Freust du dich? Dass wir nicht … dass wir nie
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