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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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beschleunigte den Schritt. Djunka stolperte.
    »Bist du müde? Wenn ja, nehme ich dich huckepack … Wie einen Rucksack … Was ist?«
    »Nein.«
    »Wie du meinst.«
    Zehn Minuten später machten sie in der Ferne im Nebel schwimmende Lichter aus.
    Das war kein Bahnhof, noch nicht mal ein Haltepunkt, sondern eher ein Ausweichgleis. Vier, nein, sechs nebelfeuchte Schienenstränge, eine riesige Weiche, ein halb in der Dämmerung verschwindendes Gebäude, ein Schuppen vielleicht oder eine Werkstatt. Etwas abseits stand das Wärterhäuschen. Ein heiserer Hund kläffte ein paar Mal.
    In seiner Kindheit hatte Klaw Angst vor Zügen gehabt. Seine allzu lebhafte Phantasie konnte den Anblick der vieltonnigen, über die Schienen ratternden Kolosse nicht gelassen hinnehmen, sondern schob stets Arme und Beine unter die Räder, manchmal auch einen Kopf.
    »Hier hält keine Bahn«, sagte er bedauernd. »Wir müssen weiter, Djunotschka, ich will mich erkundigen, wie wir von hier wegkommen.«
    »Lass uns doch hier bleiben«, flüsterte Djunka.
    »Was?« Klaw hatte nicht verstanden, was sie gesagt hatte.
    »Bis morgen früh.« Das trübe weiße Licht der Laternen spiegelte sich in Djunkas funkelnden Augen wider. »Bis zum Morgengrauen.«
    »Hmm.« Er zuckte unsicher mit den Achseln. »Vermutlich bleibt uns sowieso keine andere Wahl … Wird es dir denn nachts nicht zu kalt werden?«
    »Nein«, antwortete Djunka, und in ihrer Stimme lag eine Gewissheit, die Klaw bestürzte.
    Im Wärterhäuschen war niemand. Der Hund knurrte traurig an seiner Kette, an der Tür prangte eine schief angeklebte Nachricht: »Jarusch, komme um neune, bring se alle in de Garage.« Nachdem Klaw etwa eine Minute lang geklopft hatte, kam er achselzuckend zu dem Schluss, dass, wenn es also in der Nähe eine Garage gebe, in die irgendwelche Besucher zu bringen seien, sich auch ein Auto auftreiben lassen müsse.
    »Djunka!«
    In weiter Ferne erklang ein noch diffuses, aber rasch näherkommendes Brummen. Ein Zug.
    Klaw sah sich um. Als hätten sich Dunkelheit und Nebel miteinander abgesprochen, verdichteten sich beide gleichzeitig. Er vermochte den niedrigen Bahnsteig nicht mehr zu erkennen, an dem Djunka auf ihn warten sollte. Die weißen Laternen brannten nicht, sondern schimmerten lediglich, selbstzufrieden und ganz und gar nutzlos. Die reinsten Glotzaugen, dachte Klaw. Ihm wurde mulmig zumute.
    Das diffuse Brummen verwandelte sich in das rhythmische Rattern von Rädern, in das schwere Gerassel der zappeligen Kupplungen. Klaw spürte, wie die Schienen unter seinen Füßen vibrierten – und fragte sich, welches Gleis der Zug wohl nehmen würde.
    Das Rattern der Räder verwandelte sich in Donnern. Der Nebel roch nach Eisen und Kohle. Als Klaw mit der Brust gegen kalten Stein stieß, begriff er, dass es der Bahnsteig sein musste. Offenbar war der gar nicht so niedrig.
    Drei gleißende Augen schlugen mit einem missbilligenden Licht zu, durchdrangen den Nebelschleier, diesen matschigen Brei. Der empörte Pfiff zerriss Klaw beinahe das Trommelfell. Mit einem Satz sprang er auf den Bahnsteig und hechtete vom Rand weg.
    Der Zug brauste vorbei, ohne Anstalten zu machen, die Geschwindigkeit wegen einer so banalen Sache wie einem Ausweichgleis zu drosseln. Wahrscheinlich handelte es sich hier um einen sehr wichtigen Zug. Vermutlich informierte man den Maschinisten über Funk, der Weg sei offen und frei, der Wärter sei zu irgendwelchen Besuchern in die Garage gegangen, während man das verliebte Pärchen, das nachts im Nebel über die Gleise schlenderte, ohnehin außer Acht lassen konnte.
    »Djunka!« Klaw erzitterte. Seine Stimme ging im Gedröhn unter.
    Es handelte sich um einen Personenzug, für den Fernverkehr. Über Klaws Kopf zogen die schwach beleuchteten Fenster dahin, fahle Lichtflecke huschten über den bebenden Bahnsteig, den verrosteten Zaun, über das Gras und die Büsche. Und da – in einiger Entfernung – stand auch, das Gesicht den Nebelflecken entgegengereckt, eine einsame weibliche Figur.
    »Djunka …«
    Das Donnern riss ab. Unwillkürlich hatte sich Klaw die Ohren zugehalten. Das Rattern der Räder verebbte erstaunlich schnell, als tauche es in Watte ab.
    »Puh!«
    Djunka stand unten an den Gleisen. Er sah nur die fiebrig glänzenden Augen.
    »Gehen wir, Klaw … Komm runter, lass uns gehen …«
    Als er vom Bahnsteig runtersprang, verstauchte er sich fast den Fuß. Er wollte nach Djunkas Hand greifen, fasste jedoch ins Leere.
    »Gehen wir …«
    In

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