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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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bildete sich ein Kloß. Wie lange er diese – ihre – Angewohnheit schon kannte! Ein Zeichen der Verwirrung, der Verwunderung und Irritation. Klapp, klapp, bis der Staub von den Wimpern flog. Welcher Idiot konnte danach noch glauben, sie sei kein Mensch, sondern nur eine leere Hülle?!
    Hass auf die Tschugeister presste Klaw die Kiefer zusammen.
    »Ich möchte …«, setzte Djunka unsicher an. »Ich möchte … an die frische Luft. In den Wald … jetzt ist Frühling …«
    Klaw biss sich auf die Lippe. In der Stadt und im Umland wimmelte es von Gefahren und Feinden. Andererseits: die arme Djunka! Wie sehr sie sich, eingesperrt in die vier Wände, verzehrte! Wie sehr sie unter dem Mief und der Einsamkeit litt!
    »In Ordnung«, flüsterte er. »Wir machen einen Ausflug …«
    Die zwei Stunden Fahrt erschöpften ihn genauso wie ein Tag voller Prüfungen. Drei verschiedene Autos hatten sie mitgenommen. Und ihr Weg, auf keiner Karte eingezeichnet, hätte umständlicher nicht sein können. Dafür begegnete ihnen unterwegs aber auch nicht eine einzige Zufahrtskontrolle oder Polizeistreife.
    Einmal machten sie bereits aus der Ferne eine Tschugeister-Patrouille aus. Als Klaw erstarrte und sich in den Sitz drückte, spürte er, wie in seiner Hand Djunkas feuchte Finger eiskalt wurden und sich verkrampften. Die Ampel, die ihr gelbes Auge unverwandt auf die ruhige Straße richtete, kostete sie einige endlose Sekunden; schließlich erbarmte sie sich und sprang auf Grün. Der gesetzestreue Fahrer des Wagens gab Gas und bog in die eine Richtung ab, während die Patrouille die andere wählte.
    Hinter der Stadtgrenze herrschte Frühling.
    Auf halbem Weg zwischen zwei Campingplätzen stiegen sie aus dem Auto und schlugen sich sofort in den Wald. Djunka schritt aus, den Kopf weit zurückgebeugt und mit dem Saum ihres Mantels über die ersten grünen Gräser streifend. Das karierte Baseballcap auf ihrem Kopf zeigte mit dem Schirm in den Himmel. Klaw hielt sich etwas hinter ihr und unterdrückte den Wunsch zu rauchen.
    Zwei oder drei Mal kamen ihnen Spaziergänger entgegen, Paare wie sie, die gleichermaßen freundlich und erschrocken wirkten. Djunka lächelte und winkte ihnen zu. Klaw spielte in der Tasche mit der Zigarettenschachtel und spürte, wie sich der kalte Klumpen, der sich seit der Begegnung mit den Tschugeistern in seiner Brust zusammengeballt hatte, allmählich auflöste. Niemand würde ihm Djunka nehmen können. Keine Kraft, keine Lüge. Nie würde er das zulassen.
    Später saßen sie vor einem winzigen Lagerfeuer, in das sie immer wieder knorrige Tannenzweige warfen. Durch die vibrierende Luft hindurch sahen sie einander an. Klaw glaubte, Djunkas Gesicht würde tanzen. Die dunklen Strähnen in der Stirn, die feuchten Augen, die Lippen …
    Diese Lippen stellten sich als salzig heraus. Und überhaupt nicht kalt. Die Zunge war rau wie bei einem Kätzchen. Außerdem roch die Haut überhaupt nicht nach Wasser, sondern nach dem Frühlingsrauch der verbrannten Tannenzweige.
    Er atmete schnell und hielt die schon aufsteigenden Tränen noch zurück. Weinte er? Er erinnerte sich nicht, wann er das zuletzt getan hatte. Wahrscheinlich an Djunkas Grab. Wie weit das zurücklag. Erst jetzt, in diesem Augenblick, glaubte er tatsächlich, dass sie zurückgekehrt war. Erst jetzt glaubte er es, uneingeschränkt und vorbehaltlos. Umarmen sollte er sie jetzt …
    Die Dämmerung senkte sich rasch herab. Der Frühling war eben doch nicht der Sommer.
    »Hör mal, Djun, ist das ein Zug?«
    Das Rattern der Räder ließ sich deutlich vernehmen. In der Nähe mussten mehrere Tonnen Metall durch den Wald schnaufen, der sich mehr und mehr in Dunkelheit hüllte.
    »Lass uns hingehen«, bat Djunka leise. Das waren ihre ersten Worte in den letzten glücklichen Stunden. Vermutlich fror sie und ängstigte sich und wollte nach Hause.
    Der Wurm des gesunden Menschenverstands schrammte Klaw mit einer scharfkantigen Schuppe: Sie fror nicht. Ein normales Mädchen hätte gefroren, aber nicht Djunka …
    Hau ab, befahl er dem Wurm. Er zog seine Jacke aus, um sie Djunka über die Schultern zu legen, die ihm daraufhin einen dankbaren Blick zuwarf. Sofort wurde ihm warm, aber eng ums Herz. Gefroren hat sie, in dem dünnen Mantel! Kalt ist ihr gewesen, der Armen!
    Eine Zeit lang liefen sie auf gut Glück. Die Dämmerung verdichtete sich, es wurde feucht, von der Erde stieg feiner Nebel auf. Dann ratterten die Räder wieder, schon näher und etwas weiter links. Klaw

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