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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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wild«, sagte sie aber, das Schwindelgefühl ignorierend. »Ein bisschen.«
    Er hob ihren Kopf an und bettete ihr Hinterhaupt auf etwas Hartes und Warmes. Auf seine Knie – worauf sie im ersten Moment eine Art leichter Stromschlag durchzuckte.
    »Verkrampf dich nicht. Das muss sein. Leben deine Eltern eigentlich noch?«
    »Weshalb …«
    »Nur so. Aus Neugier.«
    »Meine Mutter. Aber ich habe ihr vor einem halben Jahr zum letzten Mal geschrieben.«
    »Magst du sie nicht?«
    »Doch. Deshalb habe ich … gedacht … ich wollte ihr schreiben … sobald ich mir mein Leben aufgebaut habe … darüber würde sie sich freuen …«
    »Und wenn sie krank ist? Deine Hilfe braucht? Wenn du ihr nicht geschrieben hast, woher willst du dann wissen, ob es ihr gut geht?«
    Ywha antwortete nicht. Mühevoll schlug sie die Augen auf. Der Himmel war leer, ohne Wolken, ohne Vögel.
    »Mein Bruder hat es mir gesagt … und auf ihn ist Verlass. Mein älterer Bruder. Im Gegensatz zu meinem jüngeren … Der verspricht dir etwas – und hat es schon im nächsten Augenblick vergessen. Es ist ganz bestimmt für alle Beteiligten am besten, wenn ich … nicht gerade jetzt auftauche. Haben Hexen nie eine Familie?«
    »Einige haben eine. Aber die meisten nicht.«
    »Zweiundsechzig Prozent?«
    Ein Auto fuhr vorbei. Es verlangsamte ein wenig, hielt jedoch nicht an.
    »Nasar wird … Er wird mich nie heiraten. Er kann keine Hexe heiraten. Das ist doch normal. Sie hätten es auch nicht gekonnt.«
    »Ich …« Der Anflug von einem Lächeln umspielte die Lippen des Inquisitors. »Ich hätte es gekonnt. Vermutlich.«
    Verwundert stemmte sich Ywha sogar ein wenig hoch. Die Schwäche verlangte allerdings Tribut, und so sank sie, von Schwindel erfasst, zurück.
    »Sag mal, Ywha, weißt du noch, was du mir gesagt hast?«
    »Es tut mir leid«, presste sie heraus.
    »Die Entschuldigung ist abgelehnt. Erinnerst du dich noch? Könntest du das wiederholen?«
    Sie hüllte sich in Schweigen. »Nein. Ich … habe es vergessen«, sagte sie dann.
    »Und erinnerst du dich, woher diese Worte kamen?«
    »Nein.«
    Das Blut, das schon versiegt war, schoss wieder aus ihrer Nase. Ywha presste das feuchte Taschentuch auf ihr Gesicht.
     
    (Djunka. April)
    Am nächsten Morgen entschuldigte sich Klaw bei Juljok Mytez. Von dem Friedensangebot begeistert, zirpte Julian den ganzen Tag wie eine Heuschrecke und erwies Klaw unzählige kleine Gefälligkeiten.
    Klaw fuhr nicht in die Stadt. Er ging zum Unterricht, kam in sein Zimmer zurück, legte sich auf die Bettdecke und kniff die Augen fest zusammen.
    Gestern war er wie durch ein Wunder dem Tod entkommen. Einem dummen und schrecklichen Tod, der obendrein wohl ziemlich qualvoll gewesen wäre. Seine Phantasie geizte nicht mit Einzelheiten, sodass er einen Widerhall jenes Schmerzes auf der Haut spürte, den ihm das gestrige Zusammenspiel von Ereignissen hätte bescheren sollen – ohne Frage ein reichlich dummes und seltsames Zusammenspiel.
    »Njawken verkehren in der Regel mit Menschen, um diese umzubringen. Gewissermaßen um die Chancengleichheit wiederherzustellen.«
    Chancengleichheit herstellen. Djunkas ewig nasse Haare … Ob sie sich daran erinnerte, wie sie gestorben war? Nämlich im Wasser. Was hatte sie damals gefühlt? Hatte sie Schmerz empfunden? Waren ihre Lungen geplatzt? Hatten immer neue Krämpfe ihren Körper gepeitscht? Wollte sie schreien – und hatte dann ihre Stimme versagt?
    Er wäre ebenfalls im Wasser gestorben. Einen anderen Tod, aber …
    Ein schönes Paar. Djunka im Badeanzug, mit den durchscheinenden Tropfen, die ihr über die Schultern rannen … und er, nackt, während Schaumflocken an ihm heruntersickerten. Ein Paar, wie füreinander geschaffen.
    Er presste die Zähne aufeinander. Die Tschugeister hatten gelogen. Jeder Henker sucht für sich eine Rechtfertigung. Der Bestrafte ist ein zutiefst widerliches Subjekt gewesen … Njawken sind keine Menschen …
    Djunka sollte also auch kein Mensch sein?!
    Von Reue gequält, fing er an zu weinen.
     
    Die Reue gab ihm Kraft. Bereits im Morgengrauen des nächsten Tages küsste er Djunka auf die rasch warm werdenden Lippen. Er empfand ihr gegenüber eine solche Schuld, dass er nicht einmal die sonst übliche Hürde vor der ersten Berührung nehmen musste. Djunka lebte, sie sah ihn verängstigt und verliebt an, und Klaw versprach, ihr heute jeden Wunsch zu erfüllen, versicherte, ihr eine Freude machen zu wollen.
    Djunka klapperte mit den Augen. In Klaws Hals

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