Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Beginn der Abendvorstellung war es noch eine Stunde.
Klawdi widerstand der Versuchung, den Graf unmittelbar vor dem Theater auf dem Gehsteig zu parken, denn das Auftauchen eines vierrädrigen Gefährts hätte hier wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewirkt; es wäre jedoch unklug, vorzeitig für Schlagzeilen zu sorgen – denen sie am Ende sowieso nicht entkommen dürften.
Klawdi hielt am Straßenrand, direkt unter einem Halteverbotsschild, und stellte den Motor ab. Sein Auto war bereits bemerkt worden. Allerdings wäre der grüne Graf wohl auch dann gesehen worden, wenn er auf den Parkplatz vor dem Bühneneingang gefahren wäre. Immerhin hatte er den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite.
Er biss die Zähne aufeinander. Wie viele Hexen es in diesem Haus gab! Initiierte. Aktive . Er wollte einfach nicht glauben, dass so viele Hexen in Freiheit waren, noch dazu an ein und demselben Ort.
»Ich habe Angst«, gestand Ywha hinter ihm.
Sie spürt es ebenfalls, schoss es ihm durch den Kopf, auch wenn sie ihre Gefühle noch nicht zu deuten vermag.
»Warte hier im Auto«, sagte er sachlich. »Oder nein. Komm mit mir mit. Aber bleib an meiner Seite …«
Synchron hielten rechts, links und etwas abseits, auf dem Parkplatz vorm Bühneneingang, drei völlig unauffällige Autos. Klawdi nickte kaum merklich. So sah eine Sondereinheit aus: entweder wie ein Autobus voller Touristen oder wie ein Lieferwagen, der Pralinen fürs Büfett brachte.
Ob er mit seinem Erscheinen vor Ort der alten internen Diskussion, ob ein Großinquisitor persönlich an Einsätzen teilnehmen solle, neue Nahrung gab?
Aber was blieb ihm anderes übrig – wenn dieser Einsatz durch ein rotes Signal von Helena Torka ausgelöst wurde?
Zum Opernensemble gehörte ein halbes Dutzend tauber, also nicht initiierter Hexen. In der Ballettschule waren es zehn. Keine von ihnen war aktiv, zumindest laut Bericht nicht. Woher kamen all die Hexen jetzt also?
Es war wie immer. Die Theaterbesucher warteten bereits eine Stunde vor Vorstellungsbeginn darauf, dass die hohen Türen geöffnet wurden. Alles war wie immer – nur dass sich die Türen nicht öffneten. Im Grunde war selbst das keine Sensation, so etwas kam vor, das nahmen die Besucher hin. Sogar wenn sich eine halbe Stunde vor Beginn nichts tat, murrten sie noch nicht.
»Gehen wir.«
Sie nahmen den Bühneneingang.
»Ihre Papiere, meine Herrschaften?!«, verlangte eine Alte mit faltigem, herrischem Gesicht am Drehkreuz.
»Die Inquisition der Stadt Wyshna.« Klawdi schlug die Manschette zurück und zeigte die funkelnde Dienstmarke. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle.«
Ein Opernhaus ist ein besonderer Ort. Die Alte wusste nur allzu gut, was es mit dem Wort »Inquisition« auf sich hatte, weshalb sie sich sogleich auch schweigend in den Schatten zurückzog.
Ywha rannte neben Klawdi her, der nach jemandem Ausschau hielt, dem er sie überantworten konnte. Der Chef der Sondereinheit war bereits vor Ort, in seinen Augen stand eine unausgesprochene Frage. Ihn interessierte, wer diesen Einsatz leitete.
»Sie«, sagte Klawdi. »Sie können auch über mich verfügen. Das Mädchen … bleibt bei mir. Ich muss sie im Auge behalten.«
Der Leiter nickte. »Dann würde ich Sie bitten, sich der Torka anzunehmen … Patron.«
»Gehen wir.« Klawdi zog Ywha in einen Seitengang. Jetzt kam ihm zupass, dass er sich in weiser Voraussicht mit der Architektur hinter den Kulissen der Wyshnaer Oper vertraut gemacht hatte.
Ywha entriss ihm ihre Hand nicht. Sie ertrug seinen eisernen Griff – und zitterte. Nervös. Das hier war kein Ort für sie. Er hatte sie nicht ohne Aufsicht lassen wollen, aber es wäre auf jeden Fall vernünftiger gewesen, als sie hier mit herzuschleppen, wo es – das witterte er – Unmengen von starken und aktiven Hexen gab. Bislang ging von ihnen jedoch noch keine akute Gefahr aus.
Sie kamen an einer Schar Frauen in Uniform vorbei, an einem dicken Mann, der in einer nicht minder dicken Tasche kramte, an zwei sehr großen Männern in Trikots, die nebeneinander auf dem Fensterbrett saßen. Und an einer Tafel mit Inseraten, einer Treppe, die zum Büfett führte und schließlich an einer Halle mit Teppichen und Ficusbäumen. Eine halb offen stehende Tür, die zum Saal mit den Spiegelwänden wies, in dem Ballettschuhe aufs Parkett klatschten, ignorierte er. Ebenso wie das Dutzend Türen, hinter denen man sich mit gedämpfter Stimme unterhielt, wo man umherlief, lachte und sich beschimpfte. Es
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