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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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unfrohem Lächeln. »Sie hatte einen eisernen Willen. Und sie war eine Schönheit … selbst jetzt ist das noch zu sehen. Am Abend vor der Operation hat sie noch ihre Witze gemacht, mich als unschlüssig verspottet …« Er verstummte. Kurz sah er der sitzenden Frau in die starren Augen, dann wandte er den Blick ab. »Von den fünfzehn Patientinnen haben neun überlebt. Alle befinden sich in diesem … Zustand. Für immer. Verstehst du jetzt?« Ywha schwieg. »Darum hast du mich heute Morgen gebeten. Hast du dir das vorgestellt, als du mir vorgeworfen hast, ich würde lügen? Verstehst du mich jetzt?«
    Es war sehr still geworden, selbst Frau Sat im Gang draußen klimperte nicht mehr mit den Schlüsseln.
    »Ja«, brachte Ywha heiser hervor.
    Der Inquisitor ließ seine Hand kurz auf der leblosen Hand der Frau liegen. »Auf Wiedersehen, Tyma. Ich hoffe, es geht dir … gut.«
    Auf dem Rückweg sagte niemand ein Wort. Ywhas Kopf schmerzte mit neuer Wucht; das Quietschen der Schlösser hallte in ihrem Nacken nach und zwang sie, sich zu krümmen, brachte sie zum Zittern. Der Inquisitor verabschiedete sich von Frau Sat, der puterrote Posten am Eingang machte Anstalten, seine Papiere zu kontrollieren. Der Inquisitor erlaubte sich, ihn darauf hinzuweisen, jetzt sei dergleichen nicht nötig; die Kontrolle habe vorher zu erfolgen, nicht nachher.
    Durch das zersprungene Fenster pfiff kalter Wind. Ywha zuckte auf dem Rücksitz mit den Beinen, krümmte sich und weinte.
     
    Das Café am Stadtrand war zu klein, als dass es einen eigenen Namen hätte haben müssen. Verwundert starrte der Kellner das seltsame Paar an: ein Mann in mittleren Jahren, kultiviert, mit einem Gesicht, das ihm vage bekannt vorkam, in Begleitung einer jungen, rothaarigen Frau, deren Nase offenbar gebrochen war, deren Augen gerötet waren und auf deren Pullover dunkelbraune Blutflecken zu sehen waren. Kurz überlegte der Kellner, ob er die Polizei holen sollte, nahm dann jedoch Abstand von der Idee.
    »Ich werde dir einen Wein bestellen. Das hilft gegen den Stress.«
    »Und Sie?«
    »Ich muss noch fahren. Willst du etwas essen?«
    »Nein.«
    »Kommt gar nicht … gut, wie du willst. Sonst wirfst du mir wieder meine pathologische Liebe zum Zwang vor.«
    Verbissen musterte Ywha die Tischdecke.
    Der Inquisitor schwieg. Er stieß einen kurzen Seufzer aus, der so gar nicht zu ihm passte, weshalb Ywha alarmiert aufhorchte.
    »Tut dein Kopf noch weh?«
    »Kaum noch.«
    »Gut. Sag mal, Ywha, wie oft ist dir das schon passiert, dass du so … seltsame Sachen von dir gibst? Bei einem Wutanfall oder wenn du Angst hast oder vor Schmerzen? Hast du das schon mal erlebt, dass die Worte … quasi aus dem Nichts auftauchten? Und dein Gegenüber äußerst verblüfft reagiert hat?«
    Ywha war klar, worauf die Frage abzielte. Mit gerunzelter Stirn und abgewandtem Blick versuchte sie sich zu erinnern, was genau sie dem Inquisitor gesagt hatte, bevor er ihr beinah das Hirn zertrümmert hatte. Das gelang aber nicht. Sie erinnerte sich nur noch, dass sie Worte über die Lippen gebracht hatte – aber Worte ohne jede Bedeutung, ja, mehr noch, die seltsamen Sätze schienen ihr lediglich wie verquirlte Spaghetti, ein farbloser und amorpher Brei ohne jeden Sinn.
    »Erinnere dich.«
    Sie öffnete den Mund, um zu sagen: Ich erinnere mich nicht – doch in diesem Moment fiel ihr etwas ein.
    »Das hast du schon einmal erlebt, nicht wahr?«
    Ja. Die Aula der Kunstschule, die gerammelt voll war. Die Direktorin mit roten Flecken auf den Wangen, die den Mädchen den »Herrn Inquisitor unseres Kreises« vorstellte. Die Übelkeit, die Schwäche und die Bosheit. Die vielen leeren Plätze, die sofort um sie herum entstanden waren, der aufmerksame Blick, das vielsagende Schweigen.
    Die Fortsetzung folgte im Zimmer der Direktorin. Eine amtliche Benachrichtigung, angewiderte, verängstigte Blicke, Gerede der Art, dass »wir die Schule nie wieder von dieser Schande reinwaschen« werden. Und noch etwas sehr Scharfes, ein Wort wie eine Knute mit einer Bleikugel. Etwas über Hexen und Huren, über nichtsnutzige kleine Nutten ohne Familie. Etwas unsagbar Gemeines, vor allem angesichts der Tatsache, dass Ywha damals erst fünfzehn Jahre alt war und noch nie einen Jungen geküsst hatte. Und dann dieses verstehende Grinsen des Herrn Inquisitors.
    Damals hatte Ywha ebenfalls den Mund geöffnet und losgeredet. Die Direktorin hatte sie damit zu Boden geschleudert; der Anblick hatte Panik ausgelöst und Ywha die

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