Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
Möglichkeit gegeben, dem Inquisitor vor der Nase zu entschlüpfen.
    Irgendwas von einer Leber hatte sie von sich gegeben. Die bald von Löchern zerfressen sein würde. Und wohl auch noch einen medizinischen Fachausdruck …
    »Was war das für eine Schule?«
    »Für angewandte Künste … Industriedesign … diese Richtung. Ich erinnere mich nicht mehr, was die Leber damit zu tun hatte, von der …«
    »Wer ist in Ohnmacht gefallen? Die Direktorin?«
    »Sie …«
    »Das war in Rydna? Die Schule für angewandte Künste?«
    »Ja.«
    »Gib mir zwei Minuten. Ich muss jemanden anrufen.«
    Die junge Kellnerin, die gerade auf einem kleinen Wagen ihre Bestellung brachte, schaute dem Inquisitor nach. Dann richtete sie den Blick auf Ywha, abschätzend, ohne ihre Neugier zu verbergen. Ywha sah woanders hin.
    Der Inquisitor kehrte nicht nach zwei, sondern erst nach zwanzig Minuten zurück. »Die Direktorin deiner Schule ist im Alter von zweiundvierzig Jahren an Leberzirrhose gestorben. Der Inquisitor, mit dem du es zu tun hattest, war Itrus Sowka, der es letztlich doch nicht zum Kurator gebracht hat. Er ist vor zwei Jahren wegen Unfähigkeit entlassen worden … Offenbar hat er nicht nur deine Verhaftung verpatzt. Ich habe ihn nicht gekannt.«
    Ywha starrte auf das Tischtuch.
    »Weinst du?«
    »Sie … war todkrank? Und ich …«
    »Vermutlich hat sie zu dem Zeitpunkt nur geahnt … dass etwas nicht stimmte. Die Ärzte haben noch gezweifelt und mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten. Vorahnungen haben sie gequält, aber als willensstarke Frau hat sie die hässlichen Gedanken erfolgreich verdrängt. Zumindest, solange es ging.«
    »Und ich habe ihr …«
    »Dich trifft keine Schuld.«
    »Aber ich bin eine Hexe!«
    »Ja, sicher. Vielleicht bist du sogar eine potenzielle Bannerhexe. Eine nicht initiierte. Du hast eine seltsame Gabe, du erfasst die Geheimnisse anderer Leute. Unbewusst. In Stresssituationen. Nun komm schon, iss was.«
    Gehorsam blickte Ywha auf den Teller. Lustlos spießte sie mit der Gabel ein bereits abgekühltes Stück Huhn auf, erinnerte sich daran, dass sie eigentlich gar nichts hatte bestellen wollen, seufzte mehrmals und legte das Besteck weg. »Und heute bin ich … auf Ihr Geheimnis gestoßen? Was hat das für mich für Konsequenzen?«
    »Gar keine.«
    »Ich wollte, ich könnte das glauben.«
    »Ywha, hast du … Industriedesign studieren wollen? Oder hast du einfach einen Ausbildungsplatz gebraucht?«
    Sie stellte das hohe Weißweinglas, das sie in der Hand hielt, auf dem Tisch ab. »Am Anfang wollte ich gern … Designerin werden. Aber dann …«
    »… hast du es dir anders überlegt?«
    Ywha hüllte sich in Schweigen und wandte den Blick ab. »Sagen Sie mir ganz ehrlich … hat Nasar mit mir Schluss gemacht?«
    »Nein.«
    »Ich habe immer geglaubt … wenn ein Mensch … also wenn er jemanden liebt … ist er auch in der Lage … zu verzeihen.« Sie holte Luft. »Zum Beispiel einer Hexe, dass sie eine Hexe ist.«
    »Wenn du das wirklich glaubst, hättest du es Nasar sagen sollen.« Der Inquisitor suchte auf dem Tisch nach einem Aschenbecher.
    Ywha brachte kein Wort heraus. »Sie machen mir das Leben nicht gerade leicht. So oft sagen Sie Sachen, die ich nicht hören will.«
     
    (Djunka. April)
    Seit knapp drei Monaten hatte er das Grab nicht besucht. Und seit seinem letzten Besuch hatte sich dort viel verändert. Die hölzernen Blumentöpfe mit den welken Winterpflanzen waren verschwunden, ein matter schwarzer Stein war aufgestellt worden, mit einem Flachrelief in der rauen Vorderseite. In der Nacht hatte es geregnet, also war Dokijas Gesicht feucht und wirkte seltsam lebendig. Klaw glaubte sogar, auf ihren Schultern würden ein paar Strähnen wippen, aber natürlich war dem nicht so. Der Steinmetz hatte nach einem alten Foto von Djunka gearbeitet, auf dem die Haare, ein wenig lockig und ganz trocken, zu einer prachtvollen festtäglichen Frisur hochgesteckt waren.
    Klaw empfand eine Art Reue. Seit dem Tag der Beerdigung hatte er niemanden aus ihrer Familie aufgesucht. Saß der Schmerz, den ihm die Worte ihrer Schwester zugefügt hatten, so tief?
    »Reiß dich zusammen, Klawdi. Du führst dich auf, als wärst du der Einzige, der Dokija geliebt hat.«
    Das stimmte. Er wollte seinen Kummer nicht teilen. Djunka sollte nur ihm gehören.
    Jetzt stand er vor dem gepflegten Grab, betrachtete die steinerne und dennoch unangenehm lebendige Djunka und versuchte mit aller Gewalt, eine aufdringliche, unbarmherzige

Weitere Kostenlose Bücher