Das Janus-Monster
seine eigenen Gesetze. Auch dieses hier. Du hast das Monstrum gesehen, das aus ihm hervorkroch. Du hast einige Worte verstanden, und ich könnte mir vorstellen, dass der Spiegel der Eingang zur Jigoku ist.«
Glenda schauderte auf ihrem Stuhl sitzend leicht zusammen. »Sag nicht so etwas.«
»Was spricht dagegen?«
»Irgendwo packe ich es nicht, dass ich vor einem Tor in die Hölle sitzen soll.«
»Wie man's nimmt.« Da Glenda nichts sagte, ging Shao vor. Der Spiegel war für sie wahnsinnig interessant geworden. Nicht nur die Fläche, auch der kunstvoll geschnitzte und aus Ebenholz bestehende Rahmen interessierte sie.
Sie sah die Motive sehr deutlich. Die Figuren stellten zum Teil Menschen dar. Und wenn, dann mussten sie sich gegen verschieden aussehende Ungeheuer verteidigen, wobei nicht nur Drachen oder monströse Schlangen zu sehen waren, in deren aufgerissene Mäuler die Menschen wie Fischfutter verschwanden.
Den Rahmen musste ein wahrer Künstler und Kenner angefertigt haben. Er fiel tatsächlich aus der Rolle. So filigran und doch fest geschnitzt, wie es nur die großen Künstler vergangener Zeiten fertiggebracht hatten.
Sie strich mit den Fingerkuppen von unten nach oben. Führte die Spitze in jede Mulde hinein, ließ sie über kleine Erhebungen gleiten, berührte die aufgerissenen Mäuler der Drachen und Ungeheuer und konnte selbst den Schauder nicht unterdrücken, der über ihren Rücken rieselte. Sie überlegte, woran es liegen konnte. Nur an Glendas Bericht?
Dem wollte Shao nicht zustimmen. Dieser Spiegel hatte etwas an oder in sich. Das war ihr klar. Der Meister, der ihn geschaffen hatte, war nicht dumm gewesen. Er musste mehr über ihn und die anderen Welten gewusst haben und hatte dieses Wissen möglicherweise in seinen geschnitzten Figuren und Szenen versteckt.
Glenda Perkins verhielt sich schweigend. Sie wollte Shao nicht stören und beobachtete sie weiterhin von ihrem Sitzplatz aus. Auch sie spürte, wie ihre Freundin allmählich in den Bann des fremden Spiegels hineingeriet. Shao bewegte sich anders als sonst. Viel langsamer und auch sorgfältiger. Stelle für Stelle tastete sie mit den Fingerkuppen genau ab, immer darauf bedacht, auch nicht auszulassen.
»Hast du was gefunden?« fragte Glenda flüsternd.
»Ich weiß es nicht.«
»Wie?«
»Na ja, er ist schon seltsam. Er fühlte sich einmal wunderbar und dann wieder befremdet an.«
»Du meinst den Rahmen?«
»Ja, wen sonst.« Shao drehte sich um, legte ihre Arme an den Körper und hob die Schultern. »Es ist schon ungewöhnlich. Ich bin davon überzeugt, dass in diesem Spiegel noch mehr steckt. Ein weiteres Geheimnis, das sich möglicherweise hinter all den hier eingeschnitzten Szenen verbirgt.«
Glenda verzog die Lippen. »Sagst du das nur so, oder bist du davon überzeugt?«
»Fast überzeugt.«
»Sollen wir gehen?«
Shao schüttelte den Kopf. »Du kannst es tun, aber ich möchte noch hier bleiben.«
»Wegen des Spiegels?«
»Ja.« Sie überlegte. »Vielleicht reagiert er ja auf mich. Ist zwar seltsam, wenn ich das sage, aber du darfst nicht vergessen, Glenda, was hinter mir steht.«
»Du sprichst von deinem Erbe, der Sonnengöttin Amaterasu?«
»Ja, das meine ich. Deshalb habe ich, sage ich mal, einen besseren Draht zu den anderen Mythologien als ein John Sinclair mit seinem Kreuz. So zumindest sehe ich es.«
»Das kann ja stimmen.«
»Ich möchte es herausfinden.«
»Aber du hast bisher nichts gespürt.«
»Das war auch nur der Rahmen, Glenda. Vergiss nicht, dass ein Spiegel auch eine Fläche besitzt. Du hast selbst gesehen, wie das Monstrum mit dem Janus-Kopf aus der Mitte des Spiegels gekrochen ist.«
»Ja, das habe ich. Aber da hat es nicht nur die normale Fläche gegeben. Ich weiß nicht, wie ich es genau ausdrücken soll. Es war so etwas wie eine Nebelinsel in der Mitte.«
»Die ist leider noch nicht da.«
Glenda lachte auf. »Leider ist gut.«
Shao hatte sich wieder gedreht und stand jetzt direkt vor dem Spiegel.
Nicht, dass sie unbedingt eitel gewesen wäre, aber sie betrachtete sich sehr genau und stellte fest, dass ihr Abbild keine Veränderung zum Original zeigte. In diesem Fall reagierte der Spiegel eben völlig normal und zeigte keine Geheimnisse auf.
Glenda Perkins wusste, wann jemand in Ruhe gelassen werden musste.
Deshalb mischte sie sich auch nicht ein und wartete ab, was die nächste Zukunft bringen würde. Zuerst streckte Shao ihre Hände aus. Sie selbst verfolgte die Bewegung genau und sah, wie
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