Das Janus-Monster
das Monster aus dem Spiegel hervorgekrochen, um sich einen Menschen zu holen. Das vergaß Shao nie, denn sie wollte dazu nicht werden. Kein Opfer, keine Tote, kein Ende in der Jigoku. So etwas wäre für sie unaussprechlich gewesen.
Aber sie merkte auch keine Angst. Sie drehte sich nicht weg, sie lief nicht schreiend davon, denn in ihr steckte eine seltsame Kraft, über die sich Shao trotz allem schon ihre Gedanken machte. Es war nicht ihre eigene Kraft und Stärke. Es war die ihres Erbes, die der Sonnengöttin Amaterasu. Sie schaffte sie es, dem Monstrum recht gelassen entgegenzublicken.
Es kam nicht weiter vor. Etwas hielt es zurück. Auch Shao bewegte sich nicht. Dabei konzentrierte sie sich auf das Gesicht und hatte den Eindruck, dass ihr dieses Geschöpf - wie auch immer - etwas mitteilen wollte.
Plötzlich hörte sie die Stimme. Eine Botschaft, sehr leise, dass nur Shao sie verstand. Sie wusste nicht einmal, ob diese Botschaft ausgesprochen worden war oder sie nur in ihrem Gehirn entstand. In diesem Fall war es nicht wichtig. Sie wartete darauf, dass sich das Monstrum erklärte.
»Du bist anders«, hörte sie es sprechen.
»Ja.«
»Wer bist du? Ich spüre deine Kraft. In dir steckt etwas, das ich nicht begreife. Du strahlst was aus. Du bist eine Feindin, das spüre ich genau.«
»Wer bist du?«
»Kato.«
Den Namen hatte Shao noch nie gehört. Deshalb hob sie auch leicht die Schultern an, im Vertrauen darauf, dass die Kreatur reagierte, was sie auch tat.
»Ich gehöre Emma-Hoo, denn ich bin sein Geschöpf.«
»Wie auch der Spiegel ihm gehört?«
»Ja, der Spiegel.«
»Aber er wurde nicht aus der Hölle geholt.«
»Nein. Emma-Hoo gab ihn ab. Ein alter Mann verwahrte ihn. Es ist der Spiegel der Sünden, in den du hineinschaust. Und weil du das tust, wird Emma-Hoo durch ihn auch in deine Augen sehen können. Er sieht dort die Sünden, die du in deinem Leben begangen hast. Und wenn es ihm passt, dann schickt er mich los, um den Sünder zu sich zu holen. Er wird dann in der Jigoku landen und für immer bei Emma-Hoo sein. Lange Zeit war der Spiegel verschollen und gut bewacht, aber jetzt ist er wieder da, und ich kann den Befehlen meines Herrn folgen.«
»So hast du auch Nagato geholt.«
»Ja, in seinem Auftrag.«
»Und warum hast du es getan?«
»Er war reif für Emma-Hoo.«
»War er so schlecht?«
»Er war ein Mörder.«
»Wen brachte er um?«
»Viele Menschen, sehr viele. Er hat für eine große Organisation gearbeitet und hat viel Geld verdient. Andere brauchten ihn, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen.«
Shao hatte schon begriffen. Sie fasste alles in einem Satz zusammen.
»Dann ist er ein Killer gewesen!«
»Ja, so sagt ihr es.«
»Und Emma-Hoo entscheidet, wenn er die Sünden in den Augen der Menschen sieht.«
»Das ist seine Stärke.«
»Sieht er auch meine Augen?«
»Du bist auch nur ein Mensch.«
»Das weiß ich. Als Mensch bin ich nicht unfehlbar. Dann müsste er auch meine Sünden sehen können.«
»Er sieht sie.«
»Und ich werde nicht geholt?«
»Sei dir da nicht so sicher«, warnte Kato. »Noch habe ich den Auftrag nicht bekommen. Das kann sich ändern. Außerdem bist du etwas Besonders. Du siehst zwar aus wie ein normaler Mensch und du bist auch einer, aber es steckt etwas in dir, das ich spüre und Emma-Hoo auch. Du musst aus einer Zeit stammen, die sehr alt ist…«
»Nein, nicht ich. Es ist die Sonnengöttin Amaterasu, deren Kraft mich leitet. Und ich weiß, dass sie kein Freund des Emma-Hoo ist. Auch wenn sie noch in ihrem Dunklen Reich gefangen ist, so wird sie niemals aufgeben, gegen das Böse zu kämpfen. Das weiß ich genau, denn ich bin die letzte Person in ihrer Ahnenkette.«
Kato schwieg. Aber er blieb. Er zog sich nicht zu seinem Herrn und Meister zurück. Nur in seinem Gesicht arbeitete es. Shao sah, wie sich bei den Bewegungen die Haut verzog. Er übte noch, bis er dann seine Hände anhob und mit den Spitzen in die Haut hineingriff.
In den folgenden Sekunden erlebte sie das gleiche wie Glenda schon zuvor. Kato schaffte es, sein erstes Gesicht nach unten zu drücken und das zweite von der Stirn her dorthin zu schieben, wo das erste einmal gesessen hatte.
Der Janus-Kopf war perfekt, und Shao schaute dabei in das Gesicht.
Es gab keinen Unterschied. Die Nase, das Kinn, die Augen und überall die glatte Haarlosigkeit. Der Mund zog sich in die Breite, ohne dass die Lippen dabei ihr wulstiges Aussehen verloren. »Noch habe ich deine Kraft nur gespürt.
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