Das Janusprojekt
eiskalte Luft, die durch das eingeschlagene Fenster hereindrang, würde ihnen wohl binnen weniger Stunden den Garaus machen.
Ich ging durch die doppelte Glastür ins Büro. Und schon auf den ersten Blick wurde mir klar, dass ich nicht zu spät gekommen war. Ganz im Gegenteil. Auf Grüns Schreibunterlage stapelten sich vier nagelneue amerikanische Pässe. Ich nahm einen und schlug ihn auf. Die Frau, die ich als Frau Warzok gekannt hatte, Grüns Gattin, war jetzt Mrs. Ingrid Hoffman. Ich sah mir auch die anderen Pässe an. Heinrich Henkell firmierte jetzt als Mr. Gus Braun, Engelbertina als Mrs. Bertha Braun. Und Erich Grün war jetzt Eduard Hoffman. Ich schrieb mir die neuen Namen auf. Dann steckte ich alle vier Pässe ein. Ohne sie würden die vier nicht weit kommen. Und auch nicht ohne die Flugkarten, die ebenfalls auf dem Schreibtisch lagen. Es waren amerikanische Militärtickets. Ich prüfte Datum, Abflugzeit und Flugziel. Mr. und Mrs. Braun und Mr. und Mrs. Hoffman sollten noch in dieser Nacht Deutschland verlassen. Sie hatten allesamt eine Mitternachtsmaschine zum Luftwaffenstützpunkt Langley in Virginia gebucht. Ich brauchte nichts weiter zu tun, als mich hier hinzusetzen und zu warten. Jemand – vermutlich Jacobs – würde ja wohl in allernächster Zukunft aufkreuzen, um die Flugkarten und die Pässe zu holen. Und wenn er kam, würde ich ihn zwingen, mich zum Haus Mönch hinaufzufahren, und es – mit drei gesuchten Kriegsverbrechern als Präsent – riskieren, die Münchner Polizei zu benachrichtigen. Sollten die doch das Chaos entwirren.
Ich setzte mich hin, nahm die Pistole heraus, die mir Pater Lajolo in Wien gegeben hatte, lud durch, entsicherte die Waffe und legte sie vor mir auf den Schreibtisch. Ich freute mich schon auf das Wiedersehen mit meinen alten Freunden. Ich erwog, eine Zigarette zu rauchen, entschied mich dann aber dagegen. Ich wollte nicht, dass Major Jacobs im Hereinkommen den Rauch roch.
Eine halbe Stunde verging, und da mir allmählich langweilig wurde, beschloss ich, ein bisschen im Aktenschrank herumzustöbern: Wenn ich später mit der Polizei sprach, konnte es nicht schaden, ein paar Belege für das zu haben, was ich ihnen zu erzählen hatte. Nicht für Grüns und Henkells Experimente an jüdischen Häftlingen in Dachau. Aber dafür, dass sie ihre Menschenversuche hier an deutschen Kriegsgefangenen fortgesetzt hatten. Das würde den Hütern des Gesetzes so wenig gefallen wie mir. Selbst wenn die Justiz vielleicht nicht geneigt sein sollte, Grün, Henkell und Zehner für das zu verurteilen, was sie während des Krieges getan hatten, konnte doch wohl kein deutsches Gericht die Ermordung deutscher Soldaten ungeahndet lassen.
Die Akten waren säuberlich alphabetisch geordnet und penibel geführt. Über die Zeit vor 1945 gab es keine Unterlagen, aber zu jeder Person, die seither mit Malaria infiziert worden war, existierte eine ausführliche Dokumentation. Die erste Akte, die ich der obersten Schublade entnahm und mir genauer ansah, behandelte einen Leutnant Fritz Ansbach, der als Kriegsgefangener im Partenkirchener Gefangenenkrankenhaus wegen Hysterie behandelt worden war. Er war Ende November ’47 per Injektion mit Malaria infiziert worden. Binnen einundzwanzig Tagen hatte er die volle Krankheitssymptomatik entwickelt, worauf ihm die Testvakzine, Sporovax, intravenös verabreicht worden war. Siebzehn Tage darauf war Ansbach gestorben. Todesursache: Malaria. Amtliche Todesursache: virale Meningitis. Ich sah noch ein paar Akten aus dieser Schublade durch. Es war immer das Gleiche. Ich ließ sie auf dem Schreibtisch liegen, um sie ins Haus Mönch mitzunehmen. Ich hatte, was ich brauchte. Und hätte um ein Haar die mittlere Schublade des Aktenschranks gar nicht mehr geöffnet. Und wäre in diesem Fall nie auf die Akte mit der Aufschrift «Handlöser» gestoßen.
Ich las die Akte langsam durch. Und fing dann nochmal von vorn an. Sie enthielt eine Menge medizinischer Fachausdrücke, die ich nicht verstand, und einige wenige, die ich verstand. Da waren alle möglichen Kurven über Körpertemperatur und Herzfrequenz der «Probandin» vor und nach einer Maßnahme, die darin bestanden hatte, ihre Arme in einen Kasten mit an die hundert infizierten Moskitos zu stecken. Mir fiel ein, wie ich damals gedacht hatte, sie hätte Flohstiche oder Läusebisse. Und in der ganzen Zeit war Henkell mit seinem kleinen Todeskästlein im Max-Planck-Institut für Psychiatrie aus und ein
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