Das Jesus Video
ihm auf, das Rückgrat hoch, drang in alle Glieder, in jede Zelle seines Körpers, um sie auf irgendeine Weise umzupolen, zu verändern, und es ging von diesem Mann aus, den er da sah. Seine Gedanken kreisten wie wilde Strudel, verstanden nichts, schnappten schier über, tobten wie verzweifelte Tiere in Käfigen, während es ringsherum brannte, hilflos. Wie radioaktive Strahlung, dachte er immer wieder. Wie radioaktive Strahlung, nur stärker, nur gewaltiger. Keinen Schutz gab es davor, nicht vor diesem — was immer es war. Es brannte in ihm, löschte Dinge aus, brannte andere ein, unauslöschlich. Bestimmt war das keine Einbildung; hätte man ihm in diesen Minuten ein Thermometer unter die Zunge gelegt, es hätte Fieber angezeigt, ohne Zweifel.
Plötzlich wußte er, warum sie diesen Mann hatten kreuzigen müssen. Er mußte ihnen abgrundtiefe Angst gemacht haben. Vor seiner Lebendigkeit mußten sie sich wie tot gefühlt haben, und sie mußten ihn gehaßt haben dafür. Vor seiner natürlichen Autorität mußten sie sich lächerlich vorgekommen sein mit ihren Ämtern und Würden und Rangabzeichen, und das mußte sie zutiefst verletzt haben.
Doch die Kirche, die sich auf ihn berief — Stephen glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, so tief und gewaltig waren die Abgründe des Verstehens, die sich vor ihm auftaten, in erbarmungsloser Abfolge, Schlag auf Schlag auf Schlag -, die Kirche hatte ihm noch viel Schlimmeres angetan als die jüdischen Hohepriester. Seine Botschaft, seine Ausstrahlung, sein ganzes Wesen war Lebendigkeit gewesen, Bejahung, Fülle — doch seine Priester hatten ausgerechnet den toten Jesus zu ihrer Ikone erwählt, den Gekreuzigten, das Sinnbild dafür, daß die Menschheit ein unermeßliches Geschenk zurückgewiesen hatte. Und seither predigten sie die Verneinung des Lebens, wiesen die Fülle zurück, lehrten Entsagung und Askese, verdrehten alles und jedes in das genaue Gegenteil.
Und er verstand, ja. Verstand, um wieviel einfacher es war, jemanden anzubeten, nachdem er tot war. Verstand, daß man jemanden anbeten mußte, wenn man ihn zu Lebzeiten verpaßt hatte und spürte, daß man ihn verpaßt hatte. Verstand, daß man ihn zum Gott erhoben hatte, damit er keine Gefahr mehr war, damit die Herausforderung, die von ihm ausging die Herausforderung an jeden Menschen: sei! — gebannt war. Damit in Vergessenheit geraten konnte, daß es jemals eine Herausforderung gegeben hatte. Deswegen hatte sich der ganze Schwerpunkt wegbewegt von seinem Leben, hin zu seinem Tod. Alles drehte sich um seinen Tod. In der Überlieferung war sein Leben nur Vorbereitung für seinen Tod, waren die Wunder, die man ihm andichtete — weil man die Wunder, die er tatsächlich auf Schritt und Tritt, mit jedem Wort und jeder Bewegung vollbracht hatte, nicht ertragen konnte -, nur notwendige Beweise für seine Göttlichkeit, dafür, daß er anders war als jeder andere Mensch. Denn dies mußte man beweisen, sonst hätte man sich ändern müssen, anstatt sich mit Anbetung und Verehrung aus der Verantwortung stehlen zu können. In der Überlieferung, so, wie sein Leben in den Evangelien geschildert war, lief alles auf diesen Tod zu, der ein katastrophales Versagen der Menschen gewesen war, ein Akt der Feigheit, und um auch dieser Wahrheit zu entgehen, hatte man eine Mythologie darum herumstricken müssen, hatte den Mord umdichten müssen in einen Opfertod.
Und so war alles verdreht und verstümmelt worden. Stephen spürte, wie ihm heiße, salzige Tränen über die Wangen liefen, und er fühlte sich unsagbar erleichtert, mit einem Schlag befreit aus einem geistigen Gefängnis, in dem er, ohne es zu ahnen, Zeit seines Lebens eingeschlossen gewesen war.
Denn dies, erkannte er voller Trauer, war die Wahrheit: Dieser Mann hätte lange, lange leben sollen.
Und doch, allein dieses Abbild zu sehen war wie ein Segen. Zu sehen, daß es möglich war, solche Kraft und Anmut, solche Lebendigkeit und überfließende Liebe… ja, genau, das war es: Dieser Mann war so von Liebe erfüllt, daß sie überfloß und alles und jedes in seiner Umgebung berührte, verwandelte, verzauberte, eine Liebe, die kein Objekt brauchte, eine Liebe zum Leben, zum Himmel wie zur Erde, bedingungslos, großmütig, lodernd wie Feuer. Jede Sekunde, die er ihn ansah, stillte einen Hunger in seiner Seele, an dem er zeitlebens gelitten hatte, ohne sich dessen bewußt zu werden, weil er es nie anders gekannt hatte. Dieser Hunger — wieder eine Erkenntnis, ein neuer,
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