Das Jesusfragment
Stapel von Zeitschriften herunterzupurzeln. Die Regale ihrer großen Bibliothek quollen über, überall drängten sich Bücher unter einer dichten Staubschicht aneinander, alles Mögliche an Krimskrams stand herum: gerahmte Fotos, kleine Schachteln, afrikanische Statuen, Wecker, Kugelschreiber, Tassen, Telefone, Walkmen, Fotoapparate, zusammengerollte Poster und ein ganzer Haufen nicht identifizierbarer Utensilien. Auch das Wohnzimmer war eine Herausforderung an die Gesetze der Schwerelosigkeit. Überall lagerten Dinge über anderen Dingen, die ihr Gleichgewicht vermutlich nur halten konnten, weil der Voodoo-Zauber der Masken, die an den Wänden am Eingang hingen, dafür sorgte.
Ich warf einen belustigten Blick auf den armen Badji, der sich in diesem undurchdringlichen Chaos sichtlich unwohl fühlte. Mit verschränkten Armen stand er in einer Ecke und wagte nicht, sich zu setzen. Für einen Koloss wie ihn gab es nirgendwo Platz.
»Will Ihr Muskelprotz sich wirklich nicht setzen?«, fragte Jacqueline und wies auf den Bodyguard.
»Ich werde mir einen Stuhl aus der Küche holen«, erwiderte Badji lächelnd. Dann verschwand er kopfschüttelnd.
Wir waren alle drei erschöpft und hungrig, aber wir waren nicht nach London gekommen, um Urlaub zu machen, denn nur eines zählte: mit unserer Suche voranzukommen. Ich beschloss, das Thema anzusprechen.
»Sophie hat mir erzählt, dass Sie Mathematik und Kunstgeschichte gleichzeitig studiert haben«, sagte ich höflich und wandte mich Jacqueline zu, »das ist erstaunlich!«
»So besonders ist es auch wieder nicht.«
»Trotzdem, wie kommt man von der Mathematik auf die Kunstgeschichte?«
Badji kam mit einem Stuhl zurück und nahm uns gegenüber Platz. Jacqueline warf ihm einen verlegenen Blick zu. Sophies Freundin schien sich mit einem Gorilla in ihrer Wohnung sehr unbehaglich zu fühlen.
»Tja, ich war immer gut in Mathe, hatte es auch als Leistungsfach«, erwiderte sie. »Dann habe ich meinen Magister in Mathe gemacht, um schließlich festzustellen, dass ich mich in dieser Richtung nicht entfalten konnte. Ich habe immer eine besondere Beziehung zur Mathematik gehabt.«
»Das heißt?«
»Schwer zu erklären. Mögen Sie Musik?«
»Ja.«
Sophie bedachte mich mit einem spöttischen Blick.
»Damien ist Deep-Purple-Fan.«
»Wunderbar«, erwiderte Jacqueline. »Wenn Sie ein Stück hören, kann es dann vorkommen, dass Sie erschauern, eine Gänsehaut bekommen? Gewissermaßen in Trance geraten, weil das Stück Sie so berührt?«
»Hm, schon«, gab ich schüchtern zu und trank einen Schluck von meinem Brandy.
»Nun, auch wenn sich das ziemlich seltsam anhört, genauso geht es mir, wenn ich ein schwieriges mathematisches Problem gelöst habe.«
»Ach ja?«
»Ja. Überrascht Sie das?«
»Ach, wissen Sie, ich und die Mathematik … ich bekam eher Pickel davon.«
»Schade. Für mich ist die Mathematik wie eine Religion. Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, aber an den Schulen wird Mathematik dermaßen schlecht vermittelt, dass man vergisst, wie magisch sie ist. Nehmen Sie nur das Musikalische Opfer von Bach. Dieses Stück ist ein wunderbares Beispiel für bilaterale Symmetrie.«
Ich verzog das Gesicht.
»Das heißt?«
»Es ist eine Art Kanon, wenn Sie so wollen. Die beiden Notenlinien dieses Stücks sind einander spiegelgleich.«
»Wollen Sie damit sagen, dass jede Notenlinie das genaue Spiegelbild der anderen ist?«, fragte ich neugierig.
»Genau. Eine Art musikalisches Palindrom. Das ist reine Mathematik, und trotzdem klingt das Stück sehr melodisch! Und das ist wirklich nicht erstaunlich. Die Harmoniegesetze sind im Grunde genommen nichts anderes als mathematische und physikalische Gesetze. Die Tatsache, dass eine Quinte so ideal mit dem Grundton harmoniert, ist keine Frage des Geschmacks, der Kultur oder der Konvention. Es ist ein Naturgesetz. Die beiden Frequenzen gleichen sich an, vereinen sich und klingen natürlich viel länger nach, wenn sie zusammen gespielt werden. Die Natur ist mathematisch und die Natur ist ästhetisch. Die Kunst ermöglicht uns wie die Mathematik, den Rhythmus der Dinge wahrzunehmen, die Verbindungen, die alle unsere Systeme vereinen. Verstehen Sie?«
Sie war voller Eifer, und selbst wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob ich das, was sie mir sagen wollte, richtig verstand, fand ich sie hinreißend.
»Mathematiker und Künstler haben das gleiche Ziel: Sie versuchen, die Welt zu deuten, die Gewohnheiten zu entdecken, die Netze und die
Weitere Kostenlose Bücher