Das Jesusfragment
ist eine sehr geheimnisvolle Reliquie, über die Albrecht Dürer einen langen Text verfasst hat.«
»Dürer hat viele Texte verfasst. Darunter eine Abhandlung über die Perspektive, die äußerst beachtlich ist.«
»Ja«, unterbrach Sophie sie. »Aber es ist der Text, der Melancolia betrifft und den Dürer seinem Freund, dem Humanisten Pirkheimer, gegeben hatte und der dann verschwunden ist.«
»Ah ja, Panofsky und Saxl erwähnen ihn in ihrer Abhandlung über Dürer. Ich dachte, dieses Manuskript sei eine reine Erfindung.«
»Nein, es existiert sehr wohl. Und Damiens Vater hat es gefunden.«
Sophie legte die Hand auf ihren Rucksack neben sich.
»Ist es da drin?«, fragte Jacqueline ungläubig.
»Ja.«
»Lass es mich sehen.«
»Gleich. Antworte erst auf unsere Fragen. Anscheinend gibt es einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen Dürers Melancolia, Leonardos Mona Lisa und einer Reliquie, die Jesus gehört haben soll. Das haben wir im Rahmen unserer Recherche herausgefunden.«
»Eine Recherche, die einen Bodyguard braucht?«, unterbrach Jacqueline und deutete auf Badji.
»Ja. Wenn du mich kennst, weißt du jetzt, wie ernst ich es meine. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich zum Schein einen Bodyguard leisten, okay? Ich fahre also fort«, nahm Sophie den Faden wieder auf. »Im Rahmen unserer Nachforschungen haben wir eine Kopie der Mona Lisa gefunden, die etwa dreißig mit Bleistift umrundete Farbkleckse aufweist. Wir sind sicher, dass hier eine Verbindung zu unserer Reliquiengeschichte besteht, weil Dürer sie in seinem Text erwähnt. Er erklärt eindeutig, dass Leonardo da Vinci an diesem Geheimnis arbeitete. Nun würden wir gern wissen, ob es sein könnte, dass die Mona Lisa ein Geheimnis dieser Art in sich birgt.«
»Das ist ja eine irre Geschichte!«, rief Sophies Freundin. »Du bist in eine gigantische Posse geraten, mein armes Kind.«
»Nein, ich versichere dir, dass es ernst ist. Bitte, sag mir etwas, das mir helfen könnte! Denk nach!«
Jacqueline stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie nahm ihr Brandyglas, das irgendwo auf dem flachen Couchtisch versteckt war, und ließ sich auf das Sofa fallen, auf dem sich Klamotten, Aschenbecher und Zeitschriften häuften.
»Na schön«, begann sie aufgebracht und zündete sich eine Zigarette an. »Erst klären wir mal die Daten. Die Mona Lisa entstand zwischen 1503 und 1507. Sie ist eines der letzten Werke von da Vinci, der 1519, also ungefähr fünfzehn Jahre später, gestorben ist. Wenn ich mich recht erinnere, stammt Dürers Kupferstich Melancolia aus dem Jahre 1515.«
»1514«, korrigierte Sophie.
»Und Dürer starb 1528. Also ebenfalls etwa fünfzehn Jahre später. Ihr Geheimnis ist also gelöst, danke und auf Wiedersehen!«
Die beiden Freundinnen brachen gleichzeitig in Gelächter aus.
Ich begnügte mich mit einem Grinsen, um sie nicht zu kränken, und warf Badji einen betretenen Blick zu.
»Gut«, fuhr Jacqueline fort, als sie merkte, dass ich nicht wirklich lachen konnte. »Also bleiben wir ernst. Ja, die Mona Lisa hat tatsächlich etwas Geheimnisvolles, aber nicht so, wie Sie sich das vorstellen, sondern, weil sie für Leonardo da Vinci eine besondere Bedeutung hatte und weil man nie herausgefunden hat, welche Art von Bedeutung das war. Obwohl es eine Auftragsarbeit von Giuliano de Medici war, und Franz I. das Gemälde kaufen wollte, weigerte sich da Vinci, es herzugeben und es blieb bis zu seinem Tod in seinem Atelier.«
»Interessant«, bemerkte Sophie.
»Ja, abgesehen davon, dass nichts Esoterisches dahintersteckt. Da Vinci strebte stets nach Perfektion, und er wusste zweifellos, dass die Mona Lisa sein gelungenstes Werk war, wenn auch nicht das vollkommenste.«
»Wenn du das sagst«, unterbrach Sophie, die zweifellos genauso skeptisch war wie ich.
Jacqueline verdrehte die Augen. »Mein armes Kind, es gibt Tausende unterschiedlicher Erklärungen für die Eigenart dieses Gemäldes.«
»Wirklich keine von besonderer Bedeutung?«, beharrte Sophie.
»Wie soll ich das wissen? Ist es die geheimnisvolle Identität seines Modells? Einige Historiker vermuten, da Vinci habe sein Selbstporträt gefertigt, getarnt als Porträt einer fiktiven Frau. Ich glaube keine Sekunde daran, aber es ist komisch, wenn man bedenkt, dass da Vinci durch und durch schwul war.«
»Wie bitte?«, bemerkte ich empört und ein wenig verwirrt.
»Nun, das ist doch ein offenes Geheimnis. Die puritanischen Historiker haben sich alles Mögliche ausgedacht, um es zu
Weitere Kostenlose Bücher