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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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geheime Struktur der Dinge.«
    »Einverstanden«, stimmte ich ihr zu.
    »Kurz gesagt, ich begann damals eine Brücke zwischen Mathematik und Ästhetik zu erkennen. Eine offenkundige Verbindung. Und statt meine Dissertation in Mathematik zu schreiben, habe ich beschlossen, mein Studium der Kunstgeschichte wiederaufzunehmen. In erster Linie habe ich mich für die Renaissance interessiert und insbesondere für Leonardo da Vinci.«
    »Das trifft sich gut«, bemerkte ich.
    »Wissen Sie, was da Vinci gesagt hat? Non mi legga chi non e matematico.«
    »Wer kein Mathematiker ist, sollte mich nicht lesen«, übersetzte Badji, der reglos auf seinem Stuhl saß.
    Jacqueline warf ihm einen erstaunten Blick zu.
    »Sehr gut. Also, wenn Sie ein wenig über Leonardo da Vincis Leben wissen«, fuhr sie fort, »dürfte Ihnen die Vorstellung von einem offenkundigen Zusammenhang zwischen Kunst und Mathematik nicht sehr befremdlich erscheinen.«
    »Nein, natürlich«, räumte ich ein. »Aber es geht hier um das 16. Jahrhundert. Zu jener Zeit hatte die Mathematik noch einen Hauch von Romantik. Den hat sie heute längst nicht mehr.«
    »Glauben Sie das ja nicht! Genau das war das Thema meiner Forschungen, mein Lieber! Die Systeme des Chaos in der Kunst, der Philosophie und der Mathematik.«
    »Wie bitte?«
    Sie verdrehte die Augen zur Decke.
    »Die Chaostheorie! Die größte Revolution in der Physik und Mathematik nach der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik. Haben Sie schon mal davon gehört?«
    »Natürlich.«
    »Seit langem versuchen Wissenschaftler offensichtlich unlösbare, weil diskontinuierliche, und ungeordnete Alltagsprobleme zu lösen.«
    »Welcher Art?«
    »Wie entstehen Wolken? Wie erklärt man Wetterschwankungen? Welchem Gesetz gehorcht der Aufstieg des Rauchs einer Zigarette?«
    »Dem Zufall natürlich.«
    »Nein! Dem Chaos. Grob gesagt, die geringste Veränderung, die geringste Abweichung zu Beginn eines Systems kann am Ende desselben eine radikale Änderung mit sich bringen.«
    »Ich verstehe. Etwas Unvermutetes geschieht, und alles kann sich ändern. Daher die berühmte Geschichte vom Flügelschlag eines Schmetterlings«, gab ich zu verstehen.
    »Genau. Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Japan erzeugt genügend Vibrationen in der Luft, um den Lauf der Dinge zu beeinflussen und zum Beispiel einen Monat später in den Vereinigten Staaten einen Sturm auszulösen.«
    »Das ist sehr beeindruckend.«
    »Nicht wahr?«
    »Und worin besteht die Verbindung zur Kunst?«
    »Sie brauchen nur meine Dissertation zu lesen!«
    »Gern, aber nicht heute Abend.«
    »Die Schönheit des Chaos besteht in seinem trügerischen Schein. Das Chaos wirkt desorganisiert und scheint keinem Gesetz zu gehorchen. Und doch besitzt das Chaos eine inhärente Ordnung, die Ordnung der Natur. Und die Kunst gehorcht denselben Gesetzen. Das habe ich versucht aufzuzeigen.«
    »Ganz ehrlich, ich werde Ihre Dissertation mit Vergnügen lesen.«
    »Aber das hat Sie nicht hergeführt.«
    Sophie, die zweifellos ungeduldig wurde, stimmte zu.
    »Also«, fuhr Jacqueline fort und wandte sich an Sophie, »die Mona Lisa und Melancolia. Kannst du dich nicht etwas präziser ausdrücken? Ich weiß wirklich nicht, was ich dir über Mona Lisa sagen könnte, was nicht schon Milliarden Mal gesagt wurde.«
    »Glaubst du, dass die Mona Lisa ein echtes Geheimnis in sich birgt?«, fragte Sophie mit unsicherer Stimme.
    »Ist das dein Ernst?«
    »Ja«, erwiderte Sophie. »Andernfalls hätte ich nicht den Ärmelkanal überquert. Man hat so viel Wirbel um dieses Bild gemacht, aber verbirgt sich deiner Meinung nach wirklich ein tieferer Sinn oder etwas Ähnliches dahinter?«
    »Woher soll ich das wissen? Warte: Wenn sich hinter der Mona Lisa ein tieferer Sinn und auch nur ein Einziger verbergen würde, hätte man ihn schon längst entdeckt. Man bedenke, wie viele Stunden sich Historiker und Kunstexperten bereits mit ihr beschäftigt haben.«
    »Und doch ist an diesem Gemälde etwas Besonderes!«, beharrte Sophie.
    »Nein, du hast doch nicht den ganzen Weg hierher zurückgelegt, nachdem wir uns acht Monate nicht gesehen haben, um mir einen derartigen Blödsinn aufzutischen?«, erwiderte unsere Gastgeberin.
    Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich wütend war oder sich nur ein kleines Drama zwischen den beiden Freundinnen abspielte.
    »Jacqueline«, fuhr Sophie fort, »ich erkläre es dir. Ich mache gerade eine Dokumentation über eine Reliquie, die von Jesus stammen soll. Es

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