Das Jesusfragment
verschieben.
»Geht's?«
»Ja«, sagte ich und ließ das kleine Holzgehäuse los.
»Gut. Auf der Rückseite des Gehäuses müsste auf deiner Seite ein kleines rundes Loch sein. Es ist ein Sucher wie beim Fotoapparat.«
»Ah ja. Es ist aber nicht rund, sondern viereckig«, berichtigte ich, »aber ich denke, das liegt daran, dass der Uhrmacher nicht die Zeit hatte, es rund zu machen.«
Ich wandte mich um. Der Uhrmacher nickte eifrig.
»Gut, dann schau hinein und sag mir, was du siehst. Logischerweise müsstest du das hundertfach vergrößerte Bild sehen.«
Ich rieb mir die Hände und näherte mein Auge dem kleinen Gehäuse. Ich hatte das Gefühl, in das älteste Mikroskop der Welt zu schauen. Und nicht unbedingt in das handlichste.
»Ich sehe, äh, Farben, verschwommen. Nichts Genaues.«
»Gut. Jetzt musst du die Maschine justieren können«, erklärte Jacqueline. »Du darfst das Gehäuse nicht mehr berühren, sondern nur noch den Sockel. Normalerweise müsstest du ihn von rechts nach links und von oben nach unten bewegen können, ganz behutsam. Ein Millimeter könnte genügen. Du musst die Palette finden.«
»Und das bedeutet?«, fragte ich und begann, den Apparat zu bewegen.
»Eine Folge von Farben, was weiß ich! Such einfach! Wenn du die Palette gefunden hast, dann hast du nicht nur das Verzeichnis der Farben, sondern kannst sicher sein, dass die Maschine für die folgenden dreiunddreißig Positionen gut geeicht ist.«
Meine Finger zitterten. Es gelang mir nicht, exakt zu sein.
Ich richtete mich seufzend auf.
»Lucie, versuch du es! Ich bin nicht geschickt genug!«
Das junge Mädchen nahm meinen Platz ein. Sie war gute zwanzig Zentimeter kleiner als ich, und der Apparat passte besser zu ihrer Größe. Aber vor allem war sie fingerfertiger und arbeitete präziser als ich.
Behutsam ließ sie den Sockel von da Vincis Maschine um die eigene Achse drehen.
»Und?«, drängte ich sie.
»Pst«, zischte sie, ohne sich zu rühren.
Sie hob eine Hand hoch, richtete den Apparat noch etwas aus, dann trat sie langsam zurück.
»Da ist sie! Exakt auf der Mittellinie! Genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Schauen Sie sich das an!«
Ich ging langsam auf den Sucher zu. Ich hatte Angst, die Maschine zu berühren und alles in Unordnung zu bringen.
»Warte!«, schrie Jacqueline am anderen Ende der Leitung. »Bevor ihr irgendwelche Dummheiten macht, wenn der Apparat jetzt justiert ist, zieht die Schraube am Sockel fest!«
»Welche Schraube?«
Der Uhrmacher trat näher.
»Ich habe noch keine Schraube reingedreht«, flüsterte er. »Warten Sie, ich werde es nachholen. Halten Sie den Sockel fest, er darf sich nicht bewegen!«
Er suchte nach einer Holzschraube und einem Schraubenzieher, dann schraubte er den Sockel fest. Ich drückte mein Auge gegen die Öffnung. Und tatsächlich, ich entdeckte eine Folge von perfekt angeordneten Farben, kleine dünne Pinselstriche, die Leonardo da Vinci in dem Bild versteckt hatte. Eine Art Strichcode, uralt und farbig.
»Wie ist es ihm nur gelungen, so winzige Details zu schaffen?«, bemerkte ich überrascht. »Wir haben Glück, dass wir sie auf dieser Reproduktion erkennen!«
»Es ist eine ausgezeichnete Reproduktion!«, meinte Jacqueline.
»Ja, aber sie hat immerhin einen Brand hinter sich! Und das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Ich glaube, er hat ein System von Lupen und einen Pinsel mit einem einzigen Haar benutzt. Oder vielleicht hat er mit einer Art Nadel gemalt. Ich weiß es nicht.«
»Auf jeden Fall sehe ich die Farben ganz deutlich. Ich will versuchen, sie zu zählen.«
Ich versuchte es mehrere Male. Die Markierungen lagen so dicht beieinander, dass man Mühe hatte, sich nicht zu vertun. Aber die Farben waren deutlich zu unterscheiden. Auch wenn die Mona Lisa insgesamt einen ziemlich einfarbigen Eindruck machte, zählte ich dreiunddreißig unterschiedliche Farben, die in dieser Ecke des Gemäldes verborgen waren.
»Bingo!«, rief ich. »Dreiunddreißig Farben! Das ist irre! Ich weiß nicht mal genau, an welcher Stelle des Bildes sie sind. Vermutlich an einer, die mein Vater mit Bleistift markiert hat.«
Lucie näherte sich der Mona Lisa und strich mit der Hand über die Oberfläche, bis ich ihre Finger sehen konnte.
»Stopp!«, befahl ich ihr. »Da ist es!«
Sie hatte den Finger auf der oberen rechten Seite des Bildes, genau an einer der Markierungen meines Vaters.
»Genau das ist es! Mein Vater war dem Ziel sehr nahe!«
»Gut«, fuhr Jacqueline am
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