Das Jesusfragment
scheußlich weh.
»Ich habe Hunger!«, quengelte ich.
»Kommen Sie her, Damien, und schauen Sie sich das an! Ihr Vater hat das ganze Dürer-Manuskript hinter dem Kupferstich Melancolia versteckt. Es ist faszinierend!«
Dürers Manuskript. Mein Vater. Alles erschien mir wie die Erinnerung an einen schrecklichen Albtraum. Ich setzte mich auf die Bettkante und gähnte. Dann warf ich einen Blick auf den Wecker auf dem Nachttisch. Sechzehn Uhr.
»Erlauben Sie, dass ich wenigstens vorher unter die Dusche gehe?«, fragte ich und zog eine Grimasse.
»Wie Sie wollen! Im Kühlschrank liegt ein Sandwich für Sie. Und Ihr Handy hat die ganze Zeit geklingelt«, fügte sie hinzu. Dann vertiefte sie sich wieder in das Dokument auf dem Tisch.
»Tatsächlich?«, wunderte ich mich. »Ich habe nichts gehört.«
»Ich habe mir erlaubt, den Ton auszuschalten und auf Vibration umzustellen.«
»Haben Sie gesehen, wer angerufen hat?«
»Nicht jedes Mal. Aber fast alle Anrufe kamen von Dave Irgendwas, Ihrem Agenten, und eine Nummer war aus der Provence. Ich hatte so eine Vermutung, wer es sein könnte, und habe im Internet nachgeschaut, und es handelte sich um unsere Freunde von der Gendarmerie.«
Sie blickte zu mir hoch und grinste.
»Scheiße!«, rief ich und ließ mich auf das Bett zurückfallen. Die Polizei war bereits hinter uns her, und Dave bekam hysterische Anfälle auf der anderen Seite des Atlantiks. Nicht nur, dass ich kein einziges der Drehbücher korrigiert hatte, ich besaß sie überhaupt nicht mehr; mein Computer war ja in Gordes geblieben.
»Wissen Sie, dass wir in dem Viertel sind, in dem ich aufgewachsen bin?«, fragte ich.
»Ja. Und?«
»Nichts. Das ruft nicht unbedingt gute Erinnerungen wach, das ist alles. Der Vorteil ist, dass ich es gut kenne. Na, schön«, sagte ich und schwang mich aus dem Bett, »ich geh ins Bad.«
Nach einer ausgiebigen Dusche und einem Sandwich, das besser schmeckte, als ich erwartet hatte, setzte ich mich neben Sophie, vor die beiden Glastüren, die auf eine kleine Terrasse hinausgingen, und sie erzählte mir aufgeregt, was sie entdeckt hatte.
»Schauen Sie, das ist das Originalmanuskript!«
Ich nahm das Manuskript behutsam in die Hand. Es war nicht sehr schwer und wirkte sehr brüchig. Ich begriff, dass es vermutlich ein halbes Jahrtausend alt war. Wie viele Zufälle hatte es wohl geben müssen, damit diese Seiten die Jahrhunderte überdauern und zu mir gelangen konnten? Ich zitterte, als ich dies einmalige Werk in den Händen hielt, das mich über die Jahrhunderte hinweg mit seinem längst verstorbenen Verfasser zu verbinden schien.
Das Pergamentpapier war rissig und wies Feuchtigkeitsspuren auf. Es umfasste ungefähr dreißig Seiten, die auf der Vorderseite mit einer klaren Schrift beschrieben waren. An einigen Stellen war sie verwischt. Es gab keine Illustrationen, aber Skizzen an den Rändern, mit roter Tinte gezeichnet. Ich blätterte durch ein paar Seiten und erfreute mich an dem Knistern des Papiers. Soweit ich es beurteilen konnte, schien das Manuskript echt zu sein.
»Das ist noch nicht alles. Auf der Rückseite der Mona Lisa gibt es einen Hinweis, der in Spiegelschrift geschrieben ist. Ich vermute, dass er von Ihrem Vater stammt.«
»Oder von Leonardo da Vinci«, bemerkte ich ironisch.
»Sehr witzig. Ich habe im Internet recherchiert. Es handelt sich um den Hinweis auf einen Mikrofilm in der Nationalbibliothek.«
»Gibt es im Hotel einen Internetzugang?«, fragte ich verwundert.
»Selbstverständlich! Hören Sie auf, mich ständig zu unterbrechen! Wir müssen unbedingt in die Nationalbibliothek gehen, um herauszufinden, was auf dem Mikrofilm ist. Und Dürers Manuskript ist sehr aufschlussreich. Ich verstehe aber nicht alles, wir müssen auch ein deutsch-französisches Wörterbuch auftreiben!«
Sie war völlig aufgelöst. Ich fand sie hinreißend, aber auch nervig, und konnte mir kaum vorstellen, dass dieses mehrere Seiten umfassende Manuskript im 16. Jahrhundert von einem deutschen Maler geschrieben worden war.
»Auf den ersten Blick«, fuhr sie fort, »habe ich so viel verstanden, dass Leonardo da Vinci das Geheimnis des Steins von Iorden entdeckt hat, was er Dürer anvertraut haben soll, der in seinem Kupferstich Melancolia mehr oder weniger deutlich darauf anspielt. Können Sie mir folgen?«
»Teilweise.«
»Der Abschnitt, den ich gerade entziffert habe, berichtet von einer Botschaft, die Jesus der Menschheit hinterlassen haben soll. Ich begreife nicht
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