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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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schaltete das Autoradio an.
    Zu den Gitarrenklängen von Jimmy Page ließen wir den Himmel des Vaucluse hinter uns, der sich langsam grau färbte. Nach einigen Takten lehnte ich meinen Kopf an die Scheibe, ließ den Blick durch die Nacht schweifen, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich drehte den Kopf zur Seite, damit Sophie mich nicht sehen konnte. Innerhalb von zwei Tagen weinte ich nun schon zum zweiten Mal. Ich beschloss, es auf den Stress und die Müdigkeit zu schieben, obwohl ich im Grunde wusste, dass sich eine viel stärkere Erschütterung ankündigte. Vielleicht musste ich noch viel mehr als nur meinen Vater begraben.
    Als Robert Plant mit seiner durchdringenden, schrillen Stimme das letzte Lied auf der CD beendete, befanden wir uns bereits auf der Autobahn. Ich musste mir große Mühe geben, wach zu bleiben. Es war eine seltsame Nacht, an die ich mich nur bruchstückhaft erinnere, vermutlich, weil ich mehrmals eingeschlafen bin. Heute vermischen sich in meiner Erinnerung die Bilder von Tankstellen und Mautgrenzen und Kaffeemaschinen. Die Blicke der Leute, der kaputte Wagen, unsere übermüdeten Gesichter. Als wir alle CDs gehört hatten, stellte Sophie im Radio ausgerechnet FIP ein, was den Eindruck der Unwirklichkeit nur verstärkte. Die Musik, die nachts auf diesem Sender gespielt wird, klingt irgendwie bizarr. Die Müdigkeit, das Licht der entgegenkommenden Scheinwerfer und der Rauch von Sophies Zigaretten brannte in meinen Augen. Unsere Gespräche waren gelegentlich durch längeres Schweigen unterbrochen. Wir wechselten uns zweimal beim Fahren ab, aber ich war völlig unfähig, so schnell zu fahren wie Sophie.
    Als wir in Paris eintrafen, stand die Sonne hoch am Himmel. Der weiße Rauch der großen Müllverbrennungsöfen von Ivry, der endlose Verkehrsstrom auf den Umgehungsstraßen, die in Dunst gehüllten Schornsteine der Gebäudereihen, die stufenweise angeordneten bläulichen Dächer, die Reklametafeln, die Graffitis, die Eisenbahnschienen: ein ordnungsgemäßer Empfang. Eiffelturm und Montparnasse, die wie zwei große wohlwollende Schwestern die Stadt überragten, erschienen im flimmernden Mittagslicht.
    Sophie berührte mich an der Schulter, um mich aus meiner Benommenheit zu reißen.
    »Wollen Sie in ein bestimmtes Hotel?«, fragte sie mich. »Ich hätte Ihnen gern vorgeschlagen, mit zu mir zu kommen, aber ich frage mich, ob das klug wäre.«
    Ich war so müde, dass mein Gehirn ihre Frage nur mühsam aufnahm.
    »Hm, ein bestimmtes Hotel? Nein, nur ein Hotel, in dem man mittags schlafen kann.«
    Sie lächelte.
    »Ich kenne ein ruhiges, angenehmes Hotel im VII. Arrondissement, aber es ist nicht ganz billig.«
    Ich blickte sie an.
    »Sophie, ich habe genug Geld.«
    Sie begann zu lachen.
    »Sollen wir zwei Einzelzimmer nehmen?«
    Ich zog die Stirn kraus.
    »Wenn Sie wollen.«
    »Ich mache nur Witze«, erwiderte sie und legte mir die Hand auf die Schulter.
    Ich wusste nicht, ob der Witz den Preis betraf, den zwei Einzelzimmer kosteten, oder die Tatsache, dass wir im selben Zimmer schlafen könnten, aber ich wollte mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Auf jeden Fall machte sich Sophie über mich lustig, seit ich ihre Homosexualität anziehend gefunden hatte und seitdem ich wusste, woran ich bei ihr war.
    Wir quälten uns durch den dichten Straßenverkehr von Paris, und knapp eine Stunde später schliefen wir im letzten Stock des Hotels Le Tourville in einem Doppelzimmer mit zwei getrennten Betten ein und versuchten zu vergessen, dass wir auf den Landstraßen der Provence dem Tod von der Schippe gesprungen waren.

Sechs
    A ls ich am Nachmittag aufwachte, saß Sophie in einer Ecke des Zimmers über einen kleinen Holztisch gebeugt. Breite, weiße Lichtstrahlen fielen durch die hellen Vorhänge. Von draußen hörte man entfernt die Geräusche der Pariser Straßen. Es war ein geräumiges, luxuriöses Zimmer, in Beige gehalten, mit dunklen Möbeln und ockerfarbenen Vorhängen. Wohin mein Blick auch fiel, überall entdeckte ich Blumen: in den Vasen, auf den Bildern, auf den Vorhängen. Unsere Sachen hatten wir achtlos neben die Betten geworfen, als wir im Hotel angekommen waren. Ich richtete mich im Bett auf und lehnte mich an die Wand.
    Sophie wandte mir langsam den Kopf zu. Vor ihr lagen das Notizheft meines Vaters und die beiden Bilder.
    »Kommen Sie!«, forderte sie mich auf, als sie sah, dass ich aufgewacht war.
    Ich streckte mich murrend, von den Sonnenstrahlen geblendet. Mein Rücken tat

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