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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Irgendwie war ich erleichtert: Ich würde es nicht mit einer obskuren mathematischen Abhandlung zu tun bekommen.
    Ich ging die Stufen hinauf und entdeckte den riesigen Lesesaal, still und einladend. Ich genoss die einzigartige Atmosphäre der Bibliothek. Die heilige Ruhe eines Gebetsaals. Die diskrete, aber spürbare Anwesenheit anderer Leser. Das Knistern umgeblätterter Seiten, die Tastaturgeräusche der Computer, ein paar geflüsterte Worte.
    Ich blickte mich in dem Raum um. Dann ging ich auf eine Bibliothekarin zu, die hinter einem ovalen Schalter saß, die Augen auf den Bildschirm ihres Computers gerichtet. Jetzt blickte sie zu mir auf. Sie war ein junges Mädchen um die zwanzig, mit kurzen braunen Haaren und einer dicken Brille, das so zierlich wie ein englisches Mannequin der neunziger Jahre war. Sie schaute etwas dümmlich drein, lächelte aber.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie mit zarter Stimme.
    Ich gab ihr die Nummer des Mikrofilms, und sie begann in einer Schublade zu kramen, die sich ein paar Meter weiter befand. Ich wartete ungeduldig, fast beunruhigt. Und wenn Sophie sich getäuscht hatte? Wenn dieses Dokument gar nichts mit unserem Fall zu tun hatte?
    Das junge Mädchen schien nichts zu finden. Mit geübten Bewegungen ließ sie Hunderte von Karteikarten durch ihre Finger gleiten. Als sie am Ende des Schubfachs angelangt war, hob sie erstaunt die Brauen und fing wieder von vorne an.
    Ich wurde immer nervöser. Waren die anderen schneller gewesen als wir? Hatte man den Mikrofilm gestohlen?
    Die Bibliothekarin wandte sich mit verkniffenem Gesicht an mich.
    »Ich finde ihn nicht«, sagte sie resigniert.
    »Tatsächlich? Ist es möglich, dass ihn jemand ausgeliehen hat?«, fragte ich verwundert.
    »Nein, normalerweise dürfen diese Dokumente die Bibliothek nicht verlassen. Aber vielleicht wird er gerade von jemandem angeschaut. Ich werde es prüfen.«
    Ich erstarrte. Die Vorstellung, dass ein anderer in diesem Lesesaal sitzen könnte, um sich den Mikrofilm anzuschauen, erschien mir plötzlich nicht nur wahrscheinlich, sondern sogar erschreckend. Vielleicht saß ein paar Meter von mir entfernt ein Mann von Acta Fidei oder von Bilderberg. Vielleicht beobachtete er mich sogar, ohne dass ich ihn sehen konnte! Ich versuchte, meine Angst zu verbergen und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen.
    »Na, das ist aber komisch«, fuhr die Bibliothekarin fort und starrte auf den Bildschirm ihres Computers.
    »Was?«, hakte ich nach.
    »Dieser Mikrofilm wurde vor fast zehn Jahren in der Nationalbibliothek hinterlegt, also noch vor dem Umzug hierher. In den letzten drei Jahren wurde er kein einziges Mal verlangt – meine Eintragungen gehen nicht weiter zurück – aber innerhalb der letzten zwei Wochen hat man ihn gleich vier Mal angefordert. Geht es um ein aktuelles Thema?«
    »Hm, ja«, stammelte ich, »mehr oder weniger.«
    »Aber seltsam ist, dass er im Augenblick von niemandem angeschaut wird, also müsste er im Schubfach sein. Warten Sie mal …«
    Sie gab schnell etwas in ihren Computer ein.
    »Ah ja, Sie haben Glück. Es gibt eine Kopie des Mikrofilms unter einer anderen Nummer. Warten Sie, ich schau mal, ob sie in der Schublade ist.«
    Und wieder verschwand sie.
    Mir kribbelte der Nacken, und ich hatte den Eindruck, beobachtet zu werden. Auf meiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, und ich hatte einen Geschmack auf der Zunge, der mir allmählich bekannt vorkam. Der Geschmack der Angst, der Wahnvorstellung, der seit gestern meiner Gesundheit zusetzte.
    Das junge Mädchen tauchte mit einem Lächeln auf den Lippen wieder auf. Sie hielt etwas in der Hand.
    »Das ist die Kopie. Aber ich muss nachforschen, wo sich das Original befindet. Ich hoffe, dass es nicht gestohlen wurde.« Sie reichte mir den Mikrofilm, der in einer kleinen Schachtel steckte.
    »Danke«, sagte ich und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
    »Wissen Sie, wie das System funktioniert?«, erkundigte sie sich und nahm wieder Platz.
    »Nein.«
    »Sie gehen in den Lesesaal dort oben«, sagte sie und deutete auf eine Tür im Zwischengeschoss. »Dort gibt es Tageslichtprojektoren, und Sie lassen den Film unter die Lampe gleiten. Wenn Sie nicht zurechtkommen, dann wenden Sie sich wieder an mich.«
    »Vielen Dank«, sagte ich und steuerte auf das Zwischengeschoss zu.
    Ich ging mit raschen Schritten, blickte nach rechts und links, beobachtete die anderen Besucher und versuchte, die geringste verdächtige Bewegung zu erkennen. Aber

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