Das Jesusfragment
vor sich ein.
Ich antwortete mit einem Lächeln und griff nach meinem Mikrofilm auf dem Tisch. Ich wollte ihn gerade wieder unter die Lampe schieben, als mich die Stimme des Neuankömmlings zusammenzucken ließ.
»Es ist doch irre, was man alles auf diesen Mikrofilmen findet, nicht wahr?«, sagte er, ohne mich anzuschauen.
War es mein übertriebenes Misstrauen oder hatte er gerade eine erkennbare Andeutung gemacht? Ich wusste, wozu unsere Verfolger fähig waren, und beschloss, keinerlei Risiko einzugehen.
»Ja, das ist irre«, erwiderte ich ohne Überzeugung und stand auf.
Ich verstaute den Mikrofilm in der kleinen Schachtel und eilte ohne nachzudenken zur Tür. Ich hatte nicht einmal den Mut, mich umzudrehen, um zu sehen, ob der Unbekannte mich verfolgte, sondern lief direkt zur Treppe. Die Bibliothekarin saß noch immer hinter ihrem Schalter. Ich ging rasch auf sie zu.
»Sind Sie schon fertig?«, fragte sie mich und schob ihre Brille nach oben.
»Hm, ja.«
Ich warf einen Blick in Richtung Zwischengeschoss. Die Tür des kleinen Lesesaals war geschlossen. Aber der Unbekannte hätte genug Zeit gehabt zu verschwinden, während ich die Treppe hinunterging. Vielleicht lauerte er in der Halle auf mich.
»Nur noch eine kurze Frage«, sagte ich und näherte mich der jungen Frau. »Können Sie mir sagen, wer den Mikrofilm in der Nationalbibliothek hinterlegt hat?«
»Natürlich.«
Sie suchte in ihrem Computer. Meine Hände waren feucht und meine Knie zitterten.
»Ein gewisser Christian Borella. Vor zehn Jahren.«
»Haben Sie seine Adresse?«, fragte ich.
»Nein, tut mir Leid.«
»Kein Problem. Vielen Dank und auf Wiedersehen.«
Sie grüßte und widmete sich erneut ihrem Papierkram. Ich atmete tief durch und steuerte ängstlich auf den Ausgang zu. Würde ich auf den Unbekannten stoßen? Würde ich erneut fliehen müssen? Würde ich die Kraft dazu haben?
Ich verließ, vorsichtig nach allen Seiten blickend, den großen Lesesaal. Der Unbekannte war nirgendwo zu sehen. Ich grinste bei dem Gedanken, dass ich vielleicht zu voreilig reagiert hatte, aber ich konnte mich nicht gleich wieder beruhigen. Und vor allem ärgerte ich mich, weil ich den Text auf dem Mikrofilm nicht zu Ende gelesen hatte.
Ich schritt durch den langen Flur der Bibliothek bis zum Ausgang. Niemand schien mir zu folgen. Dennoch setzte ich meinen Weg fort, ohne stehen zu bleiben. Draußen nahm ich ein Taxi und beruhigte mich erst Minuten später, als ich davon überzeugt war, dass mich niemand verfolgte.
Es war Mittag, als ich in der Seitenstraße der Avenue de Tourville vor der weißen Fassade des Hotels ankam. Ich zahlte das Taxi und stürzte ungeduldig ins Hotel, um Sophie von meinem Abenteuer zu berichten und zu erfahren, was sie übersetzt hatte.
Aber gleich hinter der Tür sprach mich die Empfangsdame an.
»Monsieur!«
Ich wandte mich erstaunt um. Im Allgemeinen wird man nur von einer Empfangsdame angesprochen, wenn diese eine Nachricht für den betreffenden Gast hat. Aber niemand durfte wissen, dass ich hier war. Abgesehen von Sophie. Und Sophie war ja wohl oben in unserem Zimmer …
»Monsieur«, wiederholte die junge Frau mit verlegenem Lächeln, »Ihre Frau ist vor einer halben Stunde abgereist und hat mich gebeten, Ihnen dies zu geben.«
Ich griff nach dem Umschlag, den sie mir reichte. Ungeduldig las ich, was da stand: »Damien – müssen Hotel wechseln – hob unsere Sachen mitgenommen – Rechnung noch nicht bezahlt – treffen uns um 14 Uhr vor dem Gebäude, in dem der arbeitet, für den die Männer in meinem Lieblingsfilm arbeiten.«
Ich las Sophies Zeilen zweimal, um sicher zu gehen, dass ich nicht träumte, und weil das Ende eine versteckte Botschaft enthielt. Wie ein anonymer Brief in einem alten Spionagefilm. Ich wusste, dass es ihr zweifellos sehr ernst war und brauchte keine Beweise mehr, um zu begreifen, dass Sophie und ich in ständiger Gefahr schwebten. Aber welches Gebäude meinte sie?
Ich überlegte kurz, dann kapierte ich. Für den die Männer arbeiten. Alan J. Pakula. Die Männer des Präsidenten. Das war ihr Lieblingsfilm. Sie musste also den Elyséepalast meinen. Damit waren wir um vierzehn Uhr vor dem Elyséepalast verabredet. War gar nicht so schwierig gewesen, wie ich dachte. Aber es wunderte mich, dass sie einen Code benutzt hatte, um sich mit mir zu verabreden.
Wurden wir etwa überwacht? Das war die naheliegendste Vermutung, zumal sie es vorgezogen hatte, das Hotel zu wechseln. Ich hoffte nur,
Weitere Kostenlose Bücher