Das Jesusfragment
niemand schien mich zu beachten. Mein Eindruck beobachtet zu werden, begann sich allmählich zu zerstreuen.
Nachdem ich die Treppe hinaufgegangen war, betrat ich den kleinen Raum und stellte erleichtert fest, dass niemand sonst da war. Auf zwei langen Tischen standen mehrere Tageslichtprojektoren aufgereiht, und ich wählte den, der am weitesten von der Tür entfernt war.
Ich brauchte ein wenig Zeit, bis ich den Schalter fand, dann legte ich den Mikrofilm in den Schlitz. Auf der weißen Platte erschien ein langer handgeschriebener Text. Mehrere Seiten waren hintereinander angebracht wie auf einer Druckplatte. Die geringste Bewegung ließ das Bild rasend schnell abspulen, man musste also sehr behutsam damit umgehen. Ich ließ den Mikrofilm ganz langsam nach unten laufen, um den Anfang des Textes zu lesen, auf der Seite, die in römischen Ziffern die Nummer eins trug.
Ich konnte jetzt den Titel des Manuskripts erkennen: ›Der Rückzug der Assayya‹. Voller Neugier begann ich den Text zu lesen. Er war in einem etwas gezierten pseudo-journalistischen Stil geschrieben – was mich wunderte, da es sich um ein Manuskript handelte. Nirgendwo wurde der Verfasser des Textes erwähnt, auch nicht der wissenschaftliche Rahmen, in dem er geschrieben worden war. Doch sehr schnell war ich von seinem Inhalt gefesselt und begriff, dass sehr wohl ein Zusammenhang zu unserer Geschichte bestand, auch wenn ich seinen Sinn nicht wirklich erfassen konnte.
»(…) Die Wüste von Judäa liegt längs des Toten Meeres. Morgens ab zehn Uhr setzt die Sonne dort die Steine in Flammen. Eingebettet in den Berg liegt hier ein verborgenes Kloster, das seit den ersten Jahrhundertenden Angriffen der Menschen und der Zeit widerstanden hat. Hat je ein Reisender aus Europa, ein Nomade aus der Wüste diesen Ort entheiligt? Sind die Mönche, die in dieser abgelegenen Gegend leben, direkte Nachkommen einer Sekte – der Assayya, einer religiösen Randgruppe aus den Zeiten Jesu! (…)«
Ungeduldig übersprang ich ein paar Zeilen, um einen allgemeinen Eindruck vom Inhalt des Textes zu gewinnen, bevor ich mich wieder in ihn vertiefte. Der Verfasser kleidete seine Geschichte in geheimnisvolle Sätze, die mich daran erinnerten, was Sophie über die Worte meines Vaters gesagt hatte:
»Kein Beduine hätte je versucht, das Geheimnis zu lüften, das das Schicksal dieser geistigen Dissidenten leitet, die sich in Höhlen verstecken. Die Einsiedler in der Wüste.
Ja! Zweitausend Jahre lang haben die Assayya ihren Standort behalten. Sie haben eine Spaltung aufrechterhalten, die sie von den anderen Strömungen der jüdischen Religion fern hielt, indem sie im dürrsten Gebiet Palästinas Zuflucht suchten – im ehemaligen Königreich Juda , dem Gebiet der Wadis, der Canons, der Gebirgskämme und der Asketen.
›Bekehrt euch, denn das Reich Gottes ist nah‹, hat Johannes der Täufer hier verkündet.«
Weiter unten berichtete der Mikrofilm, wie sich die Historiker das Verschwinden dieser Gemeinschaft erklärten:
»(…) Doch 70 nach Christus, zur Zeit der Zerstörung des Tempels von Jerusalem und drei Jahre vor dem Fall von Massada , wurden unsere Eremiten dieser unwirtlichen Gegend durch ein Massaker ausgelöscht, ihr Asyl wurde dem Erdboden gleichgemacht. Zumindest glaubte man das!«
Die Geschichte des Massakers wurde ausführlich erzählt. Ich übersprang einige Absätze, spürte, dass der Verfasser das Hauptthema seines Textes erreichte. Seine Erregung spiegelte sich in seinem Ausdruck und sogar in seiner Schrift wider. Der Stil seiner Prosa verriet seinen Willen, den Leser davon zu überzeugen, dass er im Begriff war, ihm eine hochbrisante Information zu liefern. So erklärte er, dass in diesem Kloster in den Bergen der Wüste von Judäa direkte Nachfahren dieser seltsamen Assayya lebten. Noch heute. Fast zweitausend Jahre später. Ich fing an, den möglichen Zusammenhang mit der Arbeit meines Vaters zu ahnen.
In diesem Augenblick wurde die Tür des kleinen Raums aufgerissen. Ich sprang hoch, der Mikrofilm rutschte aus dem Schlitz und fiel auf den Holztisch. Ich wandte mich um und sah einen Mann um die dreißig, der mit einem Mikrofilm in der Hand hereinkam. Er trug keinen schwarzen Mantel wie meine Freunde von Acta Fidei, aber sein brutales Mafioso-Gesicht wirkte keineswegs vertrauenerweckend. Oder vielleicht war es meine Wahnvorstellung, die mir wieder mal übel mitspielte.
»Guten Tag«, sagte er, setzte sich und schaltete einen Tageslichtprojektor
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