Das Jesusfragment
Dave,
tut mir Leid, dass ich dich nicht früher benachrichtigen konnte. Ich habe hier einige Probleme zu lösen und ich hatte wirklich keine Zeit, mich um dich zu kümmern und nicht einmal, ich muss es gestehen, um die Drehbücher.
Aber das ist bestimmt besser so. Denn es interessiert mich nicht mehr. Sex Bot interessiert mich nicht mehr. Ich ahne, dass dies eine Katastrophenmeldung für euch in der Agentur ist, aber ich habe keine Lust, euch etwas vorzumachen. Die Qualität der Serie würde darunter leiden. Bitte einen eurer script doctors , die Endfassung der letzten fünf Drehbücher zu schreiben. Ich gebe dir meine Einwilligung. Und mehr noch: Ich habe die Absicht, alle Rechte an der Serie an HBO zu verkaufen. Und ich möchte, dass ihr euch darum kümmert. Sex Bot hat den Gipfel seines Ruhms erreicht. Ihr könntet ganz schön davon profitieren. Schick mir einen Vertrag, ich überlasse euch 15 Prozent von dem, was HBO mir anbieten wird. Sorgt dafür, dass HBO die gleichen Co-Autoren für die Drehbücher behält, sie sind eure Schützlinge, und ihr behaltet Sex Bot im Angebot. Aber für mich ist Schluss.
Es tut mir Leid, dass ich euch so im Stich lasse. Aber es ist unwiderruflich. Bitte, versuch erst gar nicht, mich umzustimmen. Ich bleibe in Frankreich. Sicherlich für lange Zeit. Du kannst mich unter dieser Mail-Adresse erreichen. Gib sie aber bitte niemandem weiter. Danke für alles. Herzlich,
Damien.«
Ich zögerte kurz, bevor ich auf ›Senden‹ klickte, doch dann tat ich es seufzend. Die Mail wurde in einer Sekunde gesendet. Eine einzige Sekunde, die mein Leben veränderte.
Ich schaltete den Computer aus und schloss den Laptopdeckel. Mein Blick fiel auf Dürers Kupferstich. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, ihn mir näher anzuschauen.
Das Bild zeigte einen hoch gelegenen Ort, der einen Blick auf ein Meer und auf eine Küste bot. Im Mittelpunkt war ein geflügeltes Wesen, vielleicht eine Frau, vielleicht ein Engel. Das Gesicht und das Gewand ließen eher an eine Frau denken, aber ihre Gliedmaßen und ihre Schulterbreite wirkten seltsam männlich. Sie saß vor einem fensterlosen Gebäude, hatte den linken Ellbogen auf das Knie gestützt und hielt ihren Kopf in einer gleichermaßen traurigen und anmutigen Pose. In der rechten Hand hatte sie einen Zirkel, aber ihre Gedanken schienen anderswo zu sein, ihr Blick verlor sich in der Ferne. An ihrem Gürtel, einem Band, hing ein Schlüsselbund, und zu ihren Füßen schlief ein Hund. Neben ihr entdeckte ich einen Engel mit lächerlich kleinen Flügeln und gekräuseltem Haar. Mit ernster Miene schrieb er etwas auf eine Tafel. Neben ihm, wie um den Kupferstich diagonal in Vorder- und Hintergrund zu trennen, lehnte eine Leiter an der Mauer des Gebäudes. Ich bemerkte auch die vielen merkwürdigen Gegenstände, die auf dem Boden lagen oder am Gebäude befestigt waren. Zu Füßen des geflügelten Wesens lagen ein Blasebalg, Nägel, eine Säge, ein Hobel, ein Lineal, eine Kugel, dahinter befand sich eine Art riesiger behauener Stein mit mehreren Flächen, und an der Mauer des Gebäudes hingen eine Waage, eine Sanduhr, eine Glocke, eine Sonnenuhr und ein geheimnisvolles magisches Viereck.
Ein Wald von Symbolen, würden andere sagen. Schwer vorstellbar, dass man eine Interpretation für dieses durchaus elegante Chaos finden könnte. Dieser Kupferstich machte einen ungewöhnlichen Eindruck auf mich. Er gab den Titel Melancolia perfekt wieder, er vermittelte Trauer, Einsamkeit und Sehnsucht. Eine Art süßen Schmerz.
Ich knipste die kleine Lampe über dem Schreibtisch aus, erhob mich und näherte mich Sophies Bett. Ich beugte mich langsam über sie und küsste sie behutsam auf die Stirn, bevor ich selbst schlafen ging. Als ich in meinem Bett lag, hörte ich neben mir ihre Stimme:
»Gute Nacht.«
Sieben
A m nächsten Morgen wurde ich geweckt, als es dreimal an unserer Tür klopfte. Sophie war bereits angezogen und öffnete die Tür einem Hotelangestellten, der einen kleinen Servierwagen hereinrollte. Sophie hatte Frühstück für uns bestellt.
Sie gab dem jungen Mann ein Trinkgeld und schob den Wagen zwischen unsere Betten.
»Guten Morgen, biker boy !«, sagte sie und zog die Vorhänge auf. »Schauen Sie nur, was für eine herrliche Sonne! Ist das nicht ein idealer Tag, um in die Nationalbibliothek zu gehen?« Ich richtete mich im Bett auf und räkelte mich.
»Äh, was?«, stammelte ich.
Sophie trat an den kleinen Tisch, nahm ein Croissant, biss hinein und
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